Siebeneinhalbstündige Roman-Verfilmung
Doch mehren sich Vorzeichen des Niedergangs: Das Pferd verweigert den Dienst im Joch, frisst und säuft nicht mehr. Holzwürmer hören auf, das Gebälk zu zernagen. Der Brunnen versiegt, so dass Vater und Tochter vor der Dürre fliehen. Sie kommen nicht weit: Kaum sind sie hinter dem nächsten Hügel verschwunden, kehren sie schon wieder zurück. Bald erlöschen das Herdfeuer, dann die Petroleum-Lampen und endlich jedes Licht.
Alles an diesem Film ist vieldeutige Allegorie, die er in extrem langen Einstellungen ausbreitet. Sie sind Tarrs Markenzeichen. «Satanstango» von 1994, mit dem er international bekannt wurde, bebildert den gleichnamigen Roman von László Krasznahorkai quasi in Echtzeit: Mit siebeneinhalb Stunden dauert der Film genau so lange, wie der Regisseur für die Lektüre der Vorlage benötigte.
Rhythmus des Daseins im Verfall
Wobei er unscheinbare Details in den Mittelpunkt rückt: Spuren im Schlamm, die Maserung von Holz oder das Züngeln einer Flamme. Sein so lang- wie gleichmütiges Verweilen bei der Textur der Dinge entfaltet eine meditative Atmosphäre, die den Rhythmus des Daseins in seinem Verfall aufzeichnet: Alles verwittert und zerstäubt.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
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Nietzsche ebenbürtiger Nihilismus
Während beim russischen Film-Visionär aber hinter den Oberflächen des Sichtbaren stets die Hoffnung durchschien, dem wohne ein Sinn inne, verzichtet Tarr völlig darauf: Er registriert nur unbarmherzig die Zersetzung allen Seins als conditio humana. Was in einen Nihilismus mündet, der dem großen Illusionen-Zertrümmerer Nietzsche ebenbürtig ist.
Insofern erweist sich die hoch trabende Bedeutungshuberei des Titels als berechtigt: für ein minimalistisches Endspiel als ebenso außergewöhnliche wie aufreibende Seh-Erfahrung. «Das Turiner Pferd» sei sein letzter Film, erklärt der rigorose Einzelgänger: Mehr habe er nicht zu sagen. In seiner kompromisslosen Konzentration auf das ihm Wesentliche ist sein Werk einzigartig – und der Große Preis der Jury bei der Berlinale 2011 eine verdiente Würdigung.