Alle Weltreligionen haben als Sekten angefangen. Doch sie finden, wenn ihre Botschaft die Sehnsüchte vieler Zeitgenossen anspricht, weltweit ihr Gefolge. Insofern war Leonard Percival Howell der Stifter einer wahren Weltreligion.
Info
The First Rasta
Regie: Hélène Lee, Frankreich 2010, 89 min.;
mit: Max Romeo, William "Blade" Howell, Bro Powdy
Als Schiffskoch nach Russland
Dort heuert der 17-Jährige auf einem Frachter an; als Schiffskoch reist er um die halbe Welt und begeistert sich für Lenins revolutionäre Ideen. Doch seine Stippvisite im vom Bürgerkrieg erschütterten Russland ernüchtert ihn; auf einem Transport-Schiff der alliierten Interventions-Truppen gelangt er in die USA.
Offizieller Film-Trailer, englisch untertitelt
Äthiopiens Kaiser als Messias
In New York wird er Anhänger von Marcus Garvey; der Bürgerrechtler befürwortet die Rückkehr aller Schwarzen nach Afrika. Die Große Depression ab 1929 lässt Howell an der modernen Zivilisation zweifeln. Im Folgejahr findet er ein neues Vorbild: In Äthiopien wird Regent Ras Tafari zum Kaiser Haile Selassie I. gekrönt. Howell betrachtet ihn als Reinkarnation Christi und schwarzen Messias.
1932 wird er nach Jamaika abgeschoben und lässt sich auf dem Land als Heiler für Plantagen-Arbeiter nieder. Howell ist nicht der einzige Selassie-Verehrer, aber der wirkungsmächtigste: Da er die Autorität der britischen Kolonialmacht bestreitet, wird er 1934 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt – der Prozess macht ihn berühmt.
Shiva trägt Dreadlocks
Nach seiner Entlassung aus der Haft knüpft er Kontakte zur Indern in Jamaika und integriert hinduistische Elemente in seine Lehre: so den rituellen Genuss von Marijuana («Ganja») – auch sollen die Rasta-Dreadlocks auf die Haarpracht des Gottes Shiva verweisen. Weil Howell streikende Arbeiter unterstützt, lässt ihn Jamaikas Premier Bustamante in die Psychiatrie einweisen.
1940 gründet Howell die Land-Kommune Pinnacle; bald leben dort rund 3000 Gefolgsleute, denen er seine antikoloniale und –monarchistische Autarkie-Heilslehre predigt. Da die Gemeinschaft mit Ganja handelt, verhaftet die Polizei 1954 mehr als 100 Mitglieder.
Tod drei Monate vor Bob Marley
Vier Jahre später wird Pinnacle zerstört und aufgelöst; die Rastafaris zerstreuen sich über ganz Jamaika. Howell taucht unter und lebt jahrelang asketisch in Verstecken. Er stirbt im Februar 1981; drei Monate vor Bob Marley, dessen Reggae die Rasta-Religion weltweit bekannt macht.
Diese sagenhafte Biographie des wichtigsten Rasta-Propheten hat die Französin Hélène Lee minutiös rekonstruiert: 1999 in einem Buch, nun auch als Film. Worin die Hauptfigur fast unsichtbar bleibt: Wenige alte Fotos und ein grobkörniger Mitschnitt seiner Beerdigung sind die einzigen Bilder, die von Howell existieren.
Hemmungslos subjektive oral history
Stattdessen nutzt Lee historische Aufnahmen und erklärt im Off Howells turbulenten Werdegang. Das gerät arg schulbuchmäßig, bis ehemalige Weggefährten vom früheren Leben in der Pinnacle-Kommune erzählen – darunter sein Sohn William «Blade» Howell, ein heller Kopf und aufmerksamer Beobachter.
Die ausgedehnten Interviews bieten alle Vor- und Nachteile von oral history. Sie sind so anschaulich wie hemmungslos subjektiv – zumal viele der betagten Herrschaften offenbar weiter eifrig Ganja rauchen. So kommt der eklektische Aufbau der Rasta-Religion leider kaum zur Sprache.
Außenwelt als böses Babylon
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Lobeshymne auf die Doku “The Black Power Mixtape 1967 – 1975” über die schwarze Bürgerrechts-Bewegung der 1960/70er Jahre in den USA.
Womit sie großen Zulauf finden, obwohl Reggae mittlerweile zu monotonem Dancehall-Raggamuffin verflacht ist: Eine florierende Rasta-Szene dürfte das Einzige sein, was alle schwarzafrikanischen Staaten gemeinsam haben. Zwar wird sie kaum zur Massenbewegung werden: Dafür sind Rastafaris zu selbstgenügsam und individualistisch. Aber als lebensbejahende Spiritualität für underdogs taugt ihre Religion allemal.