Köln

Die entfesselte Antike: Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel

Albrecht Dürer (1471-1528): Der Tod des Orpheus [Detail], 1494, Kupferstich. Foto: museenkoeln.de
Das Wallraf-Richartz-Museum rekonstruiert das Anschauungs-Material eines Vortrags von 1905: Deutlich wird, wie Aby Warburg mit bahnbrechenden Ideen unser Bilder-Verständnis revolutionierte – bis heute.

Aby Warburg (1866 – 1929) ist der große Verzettler der Kunstgeschichte. Der Spross einer Hamburger Bankiers-Dynastie, hoch gebildet und finanziell unabhängig, entwickelte in seinem Gelehrten-Leben viele Ideen und schob kühne Projekte an – von denen er kaum eines abschloss.

 

Info

Die entfesselte Antike: Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel

 

02.03.2012 - 28.05.2012
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr im Wallraf-Richartz-Museum, Obenmarspforten, Köln

 

Katalog 19,80 €

 

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Dennoch hat Warburg das Selbstverständnis seiner Disziplin im 20. Jahrhundert wie kein zweiter geprägt. Mit zwei Begriffen: der «Pathosformel» und der «Wanderung der Formen». Beide prägte er in einem Vortrag über «Dürer und die italienische Antike», den er 1905 auf einem Philologen-Kongress in Hamburg hielt.

 

Nachdrucke kostenlos verteilt

 

Dabei veranschaulichte er seine Thesen mit neun graphischen Blättern; er hatte sie zuvor aus der Hamburger Kunsthalle ausgeliehen. Zwei davon verteilte er als Nachdruck kostenlos unter seinen Zuhörern: Dürers Zeichnung «Der Tod des Orpheus» von 1494 sowie einen gleichnamigen Kupferstich aus Ferrara, entstanden im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts.


Interview mit Kurator Thomas Ketelsen und Impressionen der Ausstellung


 

Apoll gegen Dionysos

 

Von diesem Blatt übernahm Dürer das zentrale Motiv: Orpheus kniet mit schützend erhobenem Arm zwischen zwei Mänaden, die ihn mit Keulen erschlagen. Warburg deutete die Szene als Darstellung einer Schlüssel-Szene der antiken Mythologie: Orpheus, der seinen betörenden Gesang dem Gott Apollo widmet, wird von den Begleiterinnen des Dionysos getötet.

 

Der Vortragsredner sah darin ein Sinnbild des prinzipiellen Antagonismus in der Kunst: das dionysische Prinzip chaotischer Leidenschaften ist im rational-apollinischen Prinzip aufgehoben, das dem Irrationalen dauerhafte Form verleiht. Diesen Leitgedanken entlehnte Warburg von Nietzsche, der damit «Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik» erklärt hatte.

 

Superlative der Gebärdensprache

 

Kunsthistorisch bedeutsam wurde, dass Warburg die Posen von Orpheus und den Mänaden als «Pathosformeln» bezeichnete. Darunter verstand er in der Antike entstandene Formen, um Momente äußerster Erregung darzustellen. Diese «Superlative der Gebärdensprache» aus antiken Vorbildern übernahmen italienische Renaissance-Künstler wie Andrea Mantegna und Antonio Pollaiuolo; ihre Werke dienten wiederum Dürer als Anregung.

 

Es ging Warburg nicht um konventionelle Fragen der Stilkritik: welche Vorläufer ein Künstler kopiert oder von wem er beeinflusst wird. Sondern um die räumliche und zeitliche Ausbreitung bestimmter Formen: Im antiken Griechenland werden Typen ausgebildet, um elementare Bewusstseins-Zustände des Menschen darzustellen. Jahrhunderte später werden sie im Italien der Renaissance wieder aufgegriffen.

 

Denken in Bildern

 

Solche Darstellungen sieht Dürer 1494 in Venedig und verleibt sie seinem Formen-Repertoire ein. Künftig wird er sie in Abwandlungen auf eigenen Bildern verwenden – etwa auf seinen «Herkules»-Holzschnitten und –Kupferstichen. Das ist die «Wanderung der Formen»: Sie wechseln im Laufe der Zeit aus ihrem ursprünglichen Kulturkreis in andere und werden dabei variiert. Die Formen-Sprachen der Kunst führen also quasi ein Eigenleben.

 

Mit diesem Grundgedanken revolutionierte Warburg das Verständnis, wie Formen interpretiert werden sollten: Er bereitete den iconographic turn vor. Sein Denken in Bildern ist in der Gegenwart, die Text-Lektüre zunehmend durch Bilder-Betrachtung ersetzt, aktueller denn je.

 

Alle neun Grafiken von 1907

 

Warburgs bahnbrechender Vortrag wurde 1906 nur als fünfseitige Kurzfassung publiziert; erst seit wenigen Jahren liegt das vollständige Manuskript gedruckt vor. Nun liefert diese Kabinett-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum, die zuvor in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wurde, das Anschauungs-Material nach.

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Kykladen" über "Lebenswelten einer frühgriechischen Kultur" im Badischen Landesmuseum, Karlsruhe

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Roads of Arabia” mit archäologischen Schätzen aus Saudi-Arabien im Pergamonmuseum, Berlin

Zu sehen sind alle neun Grafiken von Dürer und Mantegna, mit denen  der Kunsthistoriker seine Thesen vor 107 Jahren veranschaulichte. Sowie Reproduktionen zweier Tafeln seines ehrgeizigsten Vorhabens: Mit dem Bilder-Atlas «Mnemosyne» plante Warburg ab 1926 ein Kompendium der «Pathosformeln». Er starb, bevor er es ansatzweise verwirklichen konnte.

 

Initial-Zündung eines Paradigmen-Wechsels

 

Diese kleine Ausstellung spielt sich zuvörderst im Katalog ab: Ohne die Lektüre seiner klugen und kompakten Aufsätze wird man die Bedeutung der Zusammenstellung kaum verstehen. Doch danach betrachtet man sie mit Ehrfurcht: als Initial-Zündung eines maßgeblichen Paradigmen-Wechsels in der modernen Geisteswissenschaft.