Frankfurt am Main

Edvard Munch: Der moderne Blick

Edvard Munch: Mädchen auf der Brücke (Detail), 1902, 100 x 102 cm. Foto: © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Postermotiv-Lieferant des depressiven Zeitalters: Munch malte die bürgerliche Welt als Schreckens-Kabinett des Dr. Caligari. Damit passt er prima in unsere an sich selbst irre werdende Zeit, wie der Besucher-Ansturm auf die Schirn zeigt.

Munch (1863 – 1944) muss sein: Mit mehr als 200.000 Besuchern in 14 Wochen ist diese Ausstellung die erfolgreichste, die je in der Schirn Kunsthalle zu sehen war. «Kunst+Film» begrüßt von Herzen, dass traditionelle Ölbilder so viele Zuschauer wie sonst nur Blockbuster-Kino ansprechen. Doch was lässt die Massen in diese Werkschau eines norwegischen Malers strömen?

 

Info

Edvard Munch:
Der moderne Blick

 

09.02.2012 - 28.05.2012
täglich außer montags 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 22 Uhr in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt/ Main

 

Katalog 34,80 €,
im Handel 39,80 €

 

Website zur Ausstellung

Natürlich «Der Schrei»: Munchs emblematische Darstellung fassungslosen Entsetzens ist eine Ikone der klassischen Moderne – eines der wenigen Kunstwerke, das fast alle Europäer kennen. In diese diffuse Bild-Chiffre kann jeder eigene Ängste projizieren; dem leistete Munch Vorschub, indem er zahlreiche Varianten des Themas malte.

 

Markenzeichen Munch

 

Wie bei vielen seiner Kompositionen: Die rund 80 Gemälde und Grafiken in der Schirn zeigen, dass der Norweger sich häufig selbst zitierte. Meist führte er spätere Versionen nachlässiger aus; ihre Wiederholungen wirken eher beliebig. Offenbar wollte er einfach lukrative Sammler-Wünsche bedienen. Oder es genügte ihm, sich selbst zu kopieren: Munch als Markenzeichen.

Impressionen der Ausstellung


 

Doppelt gemalt hält besser

 

Was ihm Zuspruch sicherte, denn doppelt gemalt hält besser. Wie Elfriede Jelinek bemerkt hat, beschränkt sich der Kunstgenuss von rund 90 Prozent des Publikums darauf, geläufige Motive wieder zu sehen. Diese Sichtweise ist vermutlich tief in der Stammesgeschichte der Menschheit verankert: Der Steinzeit-Mensch musste früher betrachtete Landschaften wieder erkennen, um zurück zum Lager-Platz seiner Sippe zu finden – aus welchen Elementen sie bestanden, konnte ihm weitgehend egal sein.

 

Auf dem Wiedererkennungs-Effekt beruht die Popularität vieler zeitgenössischer Selbst-Plagiatoren: von Andy Warhols bonbonbunten Pop-Art-Porträts bis zu Keith Harings tanzenden Strich-Männchen. Damit allein lässt sich der enorme Zulauf zur Munch-Ausstellung nicht erklären.

 

Vermeintliche Modernität überzeugt nicht

 

Deren Konzept besteht in der Betonung seiner vermeintlichen Modernität. Munch wird stilistisch meist als Symbolist oder Prä-Expressionist wie Van Gogh klassifiziert. Doch sein Spätwerk ab 1900 sei geprägt von neuen Seh-Erfahrungen des technischen Zeitalters, versichert die Schirn. Dazu führt sie 50 Fotografien und vier Filme vor, die er selbst angefertigt hat.

 

Diese Belege können kaum überzeugen. Fotografien waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts Massenware und beeinflussten schon die Impressionisten. Sie stellten bereits Pferde oder Menschen oft in Frontalansicht dar, die dynamisch auf den Betrachter zulaufen. Die kurzen Amateur-Filmchen von Munch sind völlig konventionell – ohne eine Spur jenes «Neuen Sehens», das seinerzeit die Konstruktivisten erkundeten.

 

Stattdessen tritt in dieser Zusammenstellung ein anderer Aspekt drastisch zutage: Munch, der manisch-depressiv und mehrfach in der Psychiatrie war, verschafft der depressiven Welt-Sicht mit seinen Bildern kongenial Ausdruck. Damit trifft er offenkundig einen zeitgenössischen Nerv: Burn-out, Angst-Störungen und dergleichen werden gegenwärtig zu Volks-Krankheiten.

 

Nabelschau eines Schwermütigen

 

Sehr anschaulich wird das bei den Figuren, die seine Bilder bevölkern: Sie sind meist Schemen ohne individuelle Züge. Das entspricht der introvertierten Wahrnehmung in der Depression, die Mitmenschen nur als Hindernisse oder Bedrohung empfindet, aber nicht mehr als differenzierte Persönlichkeiten. Munchs Nicht-Beachtung ihres Ausdrucks kontrastiert mit der typischen Nabelschau eines Schwermütigen.

 

Vor allem auf Fotos seines kantigen Konterfeis: Isoliert aus Untersicht aufgenommen, inszeniert er sich als einsamen Wolf. Oder mit Mehrfach-Belichtungen als transparent-flüchtiges Phänomen, das sich selbst nicht zu fassen vermag. Dagegen erscheint er auf Gemälden in giftigen Komplementär-Farben als Schmerzensmann mit Leidensmiene, von leeren Schnaps-Flaschen wie Marter-Instrumenten umzingelt.

 

Leinwände für die Generation Youtube

 

Wobei seine Malweise im Lauf der Jahre immer schlampiger und unfertiger wird: Proportionen und Details interessieren Munch wenig; er klatscht sein Motiv mittig auf die Leinwand, der Rest wird irgendwie aufgefüllt. Damit kommt er den Seh-Gewohnheiten der Generation Youtube sehr entgegen: kurz einen Schlüssel-Reiz anglotzen, dann rasch zum nächsten wechseln. Kaum eines seiner Bilder lohnt eingehende Betrachtung – dafür sind sie zu simpel.

 

Zumal ihr Aufbau extrem plakativ ausfällt: mit Zentralperspektive, steilen Fluchtlinien und an den vorderen Bildrand gesetzten Visagen. Das sind billige visuelle Tricks wie das Zoomen in den Ausstellungs-Videos von «Kunst+Film», um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu lenken – und ihn damit zu bevormunden.

 

Notabeln als Nosferatu

 

Wenn in Munchs Bildern Modernität haust, dann die von vorvorgestern. Fahle Fratzen in harten Helldunkel-Kontrasten geistern darin wie in grotesk überzeichneten Stummfilmen herum. Zu besichtigen ist der Selbsthass eines Bürgertums, das an sich irre wird – Notabeln und Honoratioren als Nosferatu und Dr. Caligari. Um mit Helmut Schmidt zu sprechen: Wer Munchs Visionen schön findet, sollte zum Arzt gehen.

 

Seine fahrige Mal-Technik ähnelt der von James Ensor, dem belgischen «Maler der Masken» und anderen großen Geister-Beschwörer der Epoche. Dessen Klasse lag jedoch in raffinierten Kompositionen, mit denen er seine Wimmel-Bilder zu Welt-Panoramen ausbaute. Munch dagegen häuft Schock-Momente wie in drittklassigen Horror-Filmen an: Alpträume für schlichte Gemüter.

 

Bald kommt Lord Gaga

 

Von denen gibt es viele – und in der Spektakel-Gesellschaft suchen sie auch Ausstellungen heim. In dieser dürften sie sich pudelwohl fühlen: Ihrer Zerstreutheit des Blicks, Sucht nach starken Reizen und deren Wiederholung ad nauseam kommt Munchs Œuvre beflissen entgegen. Und die Schirn spielt weiter in dieser Liga: Ab Ende Juni präsentiert sie Jeff Koons, den Lord Gaga des Kunstbetriebs.