
Wer ist Ai Weiwei? Ein Künstler, Architekt, Kunst-Unternehmer, Selbstdarsteller, manischer Blogger, Exzentriker, Menschenrechts-Aktivist, Regime-Kritiker oder Dissident? Alles zugleich, zeigt der Dokumentarfilm der US-Filmemacherin Alison Klayman – doch er geht in keiner dieser Rollen völlig auf.
Info
Ai Weiwei - Never Sorry
Regie: Alison Klayman, 91 min., USA 2012;
mit: Ai Weiwei, Ai Dan, Lu Qing, Wang Fen
Internet-Berühmtheit Ai
Ai wurde zur Symbolfigur für Opfer von Unterdrückung in der Volksrepublik. Es gibt etliche chinesische Oppositionelle, die von den Machthabern in Peking unbarmherziger und grausamer verfolgt werden, doch keiner ist so berühmt wie er. Das liegt am Internet.
Offizieller Film-Trailer
Mehr als 150.000 Online-Fotos in drei Jahren
Der Künstler, der noch vor acht Jahren kaum Computer-Kenntnisse hatte, setzt sich und seine Anliegen online exzessiv in Szene. 2005 bat ihn die Plattform Sina.com, einen Blog zu schreiben. Ai willigte ein und reizte das Medium voll aus: Von 2006 bis 2009 verfasste er täglich mehrere Einträge und lud weit mehr als 150.000 Fotos hoch. Rund zehn Millionen Chinesen sollen seinen Blog gelesen haben.
Als der auf amtliches Geheiß geschlossen wurde, wechselte Ai zu Twitter – und trat eine Lawine von Kurzmitteilungen los. Mit Erfolg: Allein im vergangenen Jahr hat sich ihm zufolge die Zahl seiner Follower fast verdoppelt – von 70.000 auf 130.000. Da kann kein anderer Dissident mithalten.
Sprachrohr der Unzufriedenen
Kein Wunder: Ai greift die Machthaber frontal an – er geißelt drastisch ihre Inkompetenz und Korruption. In einer Diktatur, die sämtliche Medien streng zensiert, ist derart schnörkellose Sprache ein Ereignis. Der Künstler wird zum Sprachrohr für Unzufriedene, die ihre Kritik nicht auszusprechen wagen; ob sie seine Werke kennen und schätzen, ist nebensächlich.
Seine Gefolgschaft macht ihn fast unverwundbar. Als ihn die Behörden im Herbst 2011 mit horrenden Steuer-Nachforderungen ruinieren wollten, spendeten 30.000 Chinesen mehr als neun Millionen Yuan – Ai konnte seine Strafzahlung begleichen. Obwohl sein Kleinkrieg gegen die Justiz weitergeht, kann es sich Peking kaum leisten, ihn dauerhaft wegzusperren: Der Image-Schaden wäre zu groß.
Positivistische Fakten-Sammelwut
Wie hat der Künstler diesen Superstar-Status erlangt? Durch positivistische Fakten-Sammelwut, zeigt Alison Klayman, die ihn drei Jahre lang begleitete: Ai trägt mit seinem Team Tausende Namen von Opfern des Erdbebens 2008 in Sichuan zusammen und dokumentiert jeden seiner Schritte mit der Kamera.
Er hält sich streng an formaljuristische Spielregeln und verklagt Polizisten, die ihn misshandelt haben; er fällt lästig und lässt sich nicht abwimmeln. Womit er ständig die Willkür-Herrschaft einer Einheitspartei entlarvt, die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen auskungelt – und häufig ohne Begründung widerruft.
Kritik an Gigantomanie
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Ai Weiwei in New York" mit Fotografien 1983-1993 im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Beitrag zum Spielfilm "The Lady - Ein geteiltes Herz" von Luc Besson über Burmas Oppositions-Führerin Aung San Suu Kyi
und hier einen Bericht über die TV-Doku “Bilder einer Ausstellung: China und die Aufklärung” und eine Debatte zum PR-Desaster deutscher Kulturpolitik in Peking im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Beitrag über die Diskussion “Ai Weiwei: art, dissidence and resistance” am 27.07.2011 im Haus der Kunst, München
2009 pflasterte er die Fassade am Haus der Kunst in München mit der Installation «So Sorry» aus Rucksäcken von Kindern, die beim Sichuan-Erdbeben starben. 2010 folgte «Sunflower Seeds»: 100 Millionen von Hand bemalte Sonnenblumen-Kerne aus Porzellan in der Tate Modern in London. Manche Kunst-Kritiker werfen ihm Gigantomanie vor, doch Polit-Kommentatoren begeistern sich für seine so griffige wie vielschichtige Symbol-Sprache.
Vertrauensperson für den Rest der Welt
Deshalb täte man Ai Unrecht, beurteilte man seinen Aktivismus allein nach ästhetischen Gesichtspunkten. Das zeigt Klayson deutlich, indem sie verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit gleichermaßen beleuchtet: den wie ein Manager operierenden Groß-Künstler, den renitenten Regime-Ankläger – und den verheirateten Vater eines Sohnes, den seine Geliebte gebar.
Als Ein-Mann-Oppositionsbewegung, der nach zehn Jahren im New Yorker Exil perfekt Englisch spricht, ist er ein unersetzbarer Mittler zwischen China und der Außenwelt: die einzige Stimme, der westliche Beobachter im byzantinisch undurchdringlichen Interessen-Gewirr der Pekinger Politik vertrauen. Und der einzige Prophet, der ihrer boomenden Wirtschaftsmacht den Zusammenbruch voraussagt: Gäbe es Ai Weiwei nicht, müsste man ihn erfinden.