Berlin + Würzburg + Rostock

Aufbruch. Malerei und realer Raum

Marwan: Ohne Titel (Detail), 1987; Acryl und Pinsel auf Leinwand. Foto: ohe
Als die Bilder ihren Rahmen sprengten: Die Akademie der Künste zeigt Gemälde, die nur sich selbst darstellen sollten – und dafür exzentrische Formen annahmen. Was die Nachkriegszeit bewegte, erschöpft sich heute in Plagiaten.

Aufbruchs-Stimmung erlebt unsere krisengeschüttelte Gesellschaft nur noch selten. Anders vor 60 Jahren: Die Zeitgenossen hatten das Fegefeuer des Zweiten Weltkriegs durchlitten – danach konnte es nur noch aufwärts gehen. Wunsch und Wille, tabula rasa und künftig alles besser zu machen, waren vermutlich stärker als je zuvor.

 

Info

 

Aufbruch.
Malerei und realer Raum

 

04.05.2012 - 01.07.2012
täglich außer montags 11 bis 20 Uhr in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Berlin

 

Katalog 24 €

 

Weitere Informationen

 

11.08.2012 - 23.09.2012
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr, dienstags ab 13 Uhr, donnerstags bis 19 Uhr im Museum im Kulturspeicher, Oskar-Laredo-Platz 1, Würzburg

 

14.10.2012 - 27.01.2013
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr in der Kunsthalle, Hamburger Straße 40, Rostock

 

Auch in der Kunst: Die ersten beiden Jahrzehnte nach 1945 waren die experimentierfreudigsten der gesamten Kultur-Geschichte. Alle Regeln und Gewohnheiten wurden in Frage gestellt; Neues auszuprobieren war ein Wert an sich. Dieser Bewegung ist die Ausstellung «Aufbruch» gewidmet; nach Stationen in Bochum und Kaiserslautern wird sie nun in Berlin gezeigt, bevor sie nach Würzburg und Rostock wandert.

 

Grenzüberschreitungen der Malerei

 

Aus der Vielzahl der Nachkriegs-Ansätze und –Strömungen wählt sie einen Aspekt aus: das damals viel diskutierte Verhältnis von Bildern zum sie umgebenden Raum. Retrospektiv sei es noch nie umfassend behandelt worden, versichern die Kuratoren. Mag diese Behauptung auch etwas vollmundig sein – die Schau taugt allemal als facettenreicher Rückblick auf Grenzüberschreitungen der Malerei.

 

Zumal, wenn sie so spektakulär auftreten wie das Environment «Continuum», das Bridget Riley 1963 konstruierte: Pfeilförmige Streifen lenken den Besuchers in ein Rondell und wieder hinaus. Innen gleitet der Blick an rautenförmigen Schraffuren ab; für einen Moment wird er völlig orientierungslos. Ein frühes Meisterstück der Op-Art, bevor sie zum gefälligen Dekor absank.

Interview mit Kurator Erich Franz und Impressionen der Ausstellung


 

Kunst, die direkt ins Auge springt

 

Solche Augenblicke unmittelbarer Wahrnehmung strebten damals viele Künstler an – mit sehr unterschiedlichen Strategien. «Unsere Kunst sollte ins Auge springen, und dies direkt», proklamierte Ellsworth Kelly 1950. Dazu reihte er Farbflächen aneinander oder schnitt die Leinwand je nach Bildmotiv zurecht, womit er einer der Erfinder des shaped canvas wurde.

 

Unregelmäßig geformte Oberflächen nutzten ebenso Frank Stella oder Neil Williams: Dadurch sollten die Bildinhalte sich selbst genügen und nicht mehr auf eine Realität außerhalb verweisen. Jeder Illusionismus war verpönt: Ihre Kunst gab den Anspruch auf, eine Wirklichkeit darzustellen oder gar abzubilden, die als unfixierbar dynamisch und chaotisch galt.

 

ALDI-Tüte als angewandte Kunst

 

Damit wurde Malerei zu einer hermetischen Angelegenheit, in der sich end- und fruchtlos über die Beziehung zwischen Bildträger und -rand, Flächigkeit und Farbauftrag räsonieren ließ. François Morellet überzog weiße Bilder mit schwarzen Linien, die jenseits der Leinwand zusammen liefen – die Form entstand erst im Auge des Betrachters.

 

Ähnlich reihte Günter Fruhtrunk rechteckige Streifen aneinander, die scheinbar über die Bildränder hinaus reichten. Ein Fruhtrunk-Werk kennt jeder: Er hat die Einkaufstüte von ALDI-Nord entworfen.

 

Gebilde zwischen Gemälde und Skulptur

 

Diese von selbst geschaffenen Formproblemen besessene Rabulistik löste Lucio Fontana mit einem Schlag auf: Er durchbohrte die Leinwand, so dass Spuren des Gewaltakts sichtbar blieben. Das zweidimensionale Bild wurde durch Zerstörung dreidimensional. Weniger aggressiv ging Antoni Tapiès vor: Mit zähen Farb-Pasten schuf er monochrome Halb-Reliefs.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Pacific Standard Time" über Kunst in Kalifornien 1950 bis 1980 mit Werken der Op-Art im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Der geteilte Himmel: Die Sammlung 1945–1968" mit Kunst der Nachkriegszeit in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Insights" mit dreidimensionalen Wandbildern von Lee Bontecue im ZKM, Karlsruhe.

 

Weiter ausholend arbeitete Bernard Schultze: Aus verschiedenen Materialien kreierte er bunt schillernde Gebilde, die zwischen Gemälde und Skulptur changieren – ob man sie der Malerei oder Bildhauerei zurechnet, ist Ansichts-Sache.

 

Semi-Plagiate nimmermüder Kopisten

 

Die genannten Künstler steckten beispielhaft Extrem-Positionen ab, wie man das Verhältnis zwischen Bild und umgebenden Raum bestimmen kann. Welche Zwischen-Stufen möglich sind, führt die Ausstellung an rund 80 Werken variantenreich vor. Wobei auffällt, dass die überzeugendsten Arbeiten allesamt von Klassikern der Nachkriegs-Kunst stammen; ihre Nachfolger haben dem wenig hinzuzufügen.

 

Heutige Bild-Lösungen zum Thema beschränken sich meist darauf, geläufige Strategien noch einmal durchzubuchstabieren. Diese Semi-Plagiate wirken auf Dauer ermüdend; was bekannt ist, lässt sich nicht erneut entdecken. Insofern präsentiert diese Schau ein abgeschlossenes Kapitel der Kunstgeschichte – und seine nimmermüden Kopisten in der Gegenwart.