«Unterm Pflaster liegt der Strand», «Es ist verboten, zu verbieten» oder «Sei realistisch, verlange das Unmögliche!»: Nur ein paar paradoxe Parolen sind von der «Situationistischen Internationalen» (SI) in Erinnerung geblieben. Obwohl die 1957 gegründete Künstler-Gruppe eine der radikalsten Avantgarden des 20. Jahrhunderts war – bis zu ihrer Selbst-Auflösung 1972.
Info
dOCUMENTA (13)
09.06.2012 – 16.09.2012
täglich 10 bis 20 Uhr an 26 Standorten in Kassel
Katalog 24 €,
Begleitband 68 €
Leben als Kunstwerk
Gegen Entfremdung und Isolation setzte die SI auf die «Konstruktion von Situationen»: Sie sollten die Trennung von Arbeit und Freizeit aufheben und das Leben selbst in ein Kunstwerk verwandeln. Wie es die Situationisten bei ihren Konferenzen praktizierten, erläuterte der Kunst-Historiker und SI-Experte Tom McDonough: Es ging ihnen um Teilnahme an einer Gemeinschaft, nicht-hierarchischen Dialog, Spontaneität und Leidenschaft.
Interview mit Tom McDonough + Auszüge seines Vortrags (auf Englisch)
Gruppen-Treffen mit Gelage
In scharfer Abgrenzung von allen Institutionen – ob staatlich oder supranational – und den etablierten Kunst-Strömungen der 1950/60er Jahre: etwa dem Nachkriegs-Surrealismus, den André Breton diktatorisch beherrschte. Dagegen gaben sich die Situationisten als egalitär-exzessive bohémiens: Gruppen-Treffen arteten regelmäßig in Gelage aus.
Was die Kreativität ihrer Mitglieder – darunter die Maler Asger Jorn, Uwe Lausen, Hans Platschek, die Münchener SPUR-Gruppe und der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann – offenbar beförderte. Ihre Zeitschrift «internationale situationniste» strotzte vor tief schürfenden theoretischen Texten in origineller Aufmachung; von Foto-Collagen bis zu Comic-Bildern.
Einfluss auf Punk + Guerilla-Marketing
Info
Lesen Sie hier einen Besprechung des Dokumentarfilms "Jean Tinguely" von Thomas Thümena über den den Situationisten nahe stehenden Künstler
und hier eine Rezension der Ausstellung “Der geteilte Himmel: Die Sammlung 1945–1968” mit Kunst der Nachkriegszeit in der Neuen Nationalgalerie, Berlin
und hier einen kultiversum-Beitrag über eine Retrospektive des situationistischen Künstlers Uwe Lausen in der Sammlung Falckenberg, Hamburg.
Denn die Situationisten waren eine entschieden moderne und urbane Bewegung; mit der Natur-Romantik von Hippies hatten sie nichts am Hut. Zunehmende Technisierung der Produktion sollte die Menschheit von Arbeitsteilung und Bürokratie befreien – ähnlich wie es Marx schon Mitte des 19. Jahrhunderts erhoffte.
Situationismus ist Nachtleben-Standard
Wobei der SI ihre begrenzte Reichweite bewusst war: Ihr revolutionärer Anspruch kam über kleine Zirkel in angesagten Cafés kaum hinaus, und ihre ästhetischen Innovationen ließen sich mühelos in die Waren-Kreisläufe des Kultur-Betriebs integrieren. Insofern hat sie sich zu Tode gesiegt: Heute sind alle Feierwütigen Situationisten – in den kapitalistisch regulierten Ausschweifungen des Nachtlebens.