Kassel

Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth

Gulliver trifft Liliputaner: Großer Kopf und männliche Figur; Epoxy und Holzspäne, Bronze bemalt, 4 x 4 m, 2010/12. Foto: ohe
Kulturkampf in Kassel: Bildhauer Balkenhol stellt in einer Kirche aus, documenta-Chefin Christov-Bakargiev protestiert – und die ganze Stadt ergreift Partei. Obwohl banale Holz-Figuren kaum erbitterten Streit lohnen.

Die documenta 13 hat noch gar nicht angefangen und schon ihren ersten Skandal: Anfang Mai installierte die katholische Kirche Sankt Elisabeth in ihrem Glocken-Turm eine Skulptur von Stephan Balkenhol. Auf goldener Kugel balanciert die Männer-Figur mit ausgebreiteten Armen, wie eine Wetterfahne im Wind drehend.

 

Info

 

Stephan Balkenhol
in Sankt Elisabeth

 

04.06.2012 - 18.09.2012
täglich 11 bis 20 Uhr, sonntags ab 12 Uhr in der Sankt Elisabeth-Kirche, Friedrichsplatz 13, Kassel

 

Katalog 19,80 €

 

Weitere Informationen

 

Manche fühlten sich an die Christus-Statue von Rio de Janeiro erinnert, andere an einen Bungee-Springer oder Selbstmörder – und riefen die Feuerwehr. «Schockiert» war hingegen die künstlerische Leiterin der documenta, Carolyne Christov-Bakargiev (CCB), weil sie sich «bedroht» sehe.

 

Kunst-Garten für Schmetterlinge

 

Die militante Feministin beklagte, dass die Gestalt einen Mann darstelle; der müsse schleunigst entfernt werden. Aus Achtung vor der Natur: Auf dem angrenzenden Friedrichsplatz wolle sie die «ökologische Perspektive» der documenta verdeutlichen – mit einem Kunst-Garten für Schmetterlinge von Kristina Buch.

Feature über den Künstler mit Statemens von Stephan Balkenhol; © "Titel Thesen Temperamente"/ ARD


 

Gregor Schneider darf nicht ausstellen

 

Klerus und Bildhauer lehnten CCBs Forderung ab; einer Presse-Erklärung folgte die nächste und allerlei Außenstehende ergriffen Partei – Kassels SPD-Bürgermeister Bertram Hilgen für die documenta-Chefin, Hessens CDU-Kultus-Ministerin Eva Kühne-Hörmann für die Kirche. Der Künstler Gregor Schneider legte nach: Er wollte ebenfalls in der Karlskirche ausstellen; leider habe die evangelische Landeskirche in vorauseilenden Gehorsam einen Rückzieher gemacht.

 

Inzwischen ist von «Zensur» und «totalitärem Denken» die Rede. Ein regelrechter Kultur-Kampf entbrennt: links gegen rechts, Katholiken gegen Protestanten, Kreuzritter für Meinungsfreiheit gegen Gefolgsleute der documenta-Leitung. Es geht um die letzten Dinge: CCB will die «anthropozentrische Weltsicht» überwinden, Bischof Heinz Josef Algernissen «den Menschen in den Mittelpunkt stellen».

 

Mobilmachung ist erste Bürgerpflicht

 

Alle Kombattanten gießen eifrig Öl ins Strohfeuer – und profitieren davon: Soviel Rauschen im Blätterwald war selten vor einem documenta-Start. Deren Leiterin verteidigt ihr vertragliches Recht, der Stadt ihren Stempel aufzudrücken – und brave Kasseler, die meist die Mammut-Schau ignorieren, solidarisieren sich mit einer Kirche, die sie sonst nie aufsuchen.

 

Nun ist Mobilmachung erste Bürgerpflicht: Die kahle Beton-Backstein-Kirche aus der Nachkriegs-Zeit war bei der Ausstellungs-Eröffnung bis auf den letzten Platz besetzt. Donnernder Zwischen-Applaus für jeden Redner, der sich gegen CCBs Bevormundung verwahrte. Davon sprach ein halbes Dutzend, was fast drei Stunden dauerte: Wann haben katholische Pfarrer in der nordhessischen Diaspora je Gelegenheit, ihre Schäfchen so lange zu beschallen?

 

Bibel-Reliefs an der Wand

 

Doch die schmale Balkenhol-Schau scheint die ganze Aufregung kaum wert: zehn Werke inklusive «Mann im Turm», davon sieben im Inneren eigens für die Kirche geschaffen, sowie zwei Monumental-Skulpturen im Außenbereich. Der teuer gehandelte Bildhauer variiert seine sattsam bekannten, (über-)lebensgroßen Figuren; grob aus Holz geschnitzt und plakativ bemalt.

 

Ihre Titel sind trivial wie stets, ihr Aussehen nicht minder: Betont ausdruckslos stehen sie herum oder hängen als Relief-Figur an der Wand. Obwohl Balkenhol jede Festlegung ablehnt, sind biblische Bezüge offensichtlich: ein Adam-und-Eva-Diptychon, eine Maria mit Kind, einen Schmerzensmann mit Wundmalen und ein Memento-Mori-Skelett erkennt jeder wieder, der je eine Kirche betrat.

 

Viele Augen vor gähnender Leere

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen kultiversum-Bericht über das erste documenta-13-Kunstwerk "Idee di Pietra" von Giuseppe Penone.

 

Ihre neutrale Mimik und Gestik preist der Katalog als ideale Projektions-Fläche für das Nachsinnen über die conditio humana bar aller Attribute. So sieht sich die Kirche heutzutage gern: als für das große Ganze zuständige Seelsorgerin, die existentielle Fragen stellt – auf die sie auch keine überzeugenden Antworten weiß.

 

Deshalb beeindruckt am ehesten Balkenhols «Augen-Kreuz», das über dem Altar hängt: vier schwarze Platten voller Augen-Bilder mit breiten Fugen in Kreuz-Form. Das einst verbindliche Auge des einzigen Gottes hat sich vervielfältigt, doch dazwischen gähnt Leere: Treffender lässt sich vages Sehnen nach religiöser Gewissheit kaum darstellen. Dahinter ist nur das Loch-Raster einer Beton-Wand.