
Bereits um 1850 existierten in indischen Großstädten wie Delhi, Kalkutta und Bombay mehrere Fotostudios: Dort wurde in den ersten Jahrzehnten der Fotografie inszeniert – nicht nur, weil die Belichtung mindestens einige Sekunden dauerte und deshalb statische Kompositionen erforderlich machte.
Info
Das Koloniale Auge – Frühe Porträtfotografie in Indien
20.07.2012 - 21.10.2012
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr im Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, Berlin
Katalog 39,80 €
Klischees von Armut + Andersartigkeit
Fotografie im Dienste von Ethnologie und Anthropologie bedeutete mehr als pittoreske Darstellungen von Landschaften und Architektur: Die beherrschten Völker sollten Klischees von Armut und Andersartigkeit erfüllen.
Impressionen der Ausstellung
Ältestes arbeitendes Foto-Studio der Welt
Mit der Oberschicht des indischen Kastensystems konnten sich die Kolonialherren einigermaßen identifizieren. So setzte das Foto-Studio Bourne & Shepherd – übrigens das älteste bis heute arbeitende Studio für Fotografie überhaupt – den Maharadscha Tukojirao II. Holkar von Indore im Stil eines europäischen Herrschers in Szene.
Mit prächtigem Säbel und Kopfputz wird der Maharadscha als Regent optisch deutlich definiert. Der üppige Schmuck über dem traditionellen Gewand und die im Hintergrund platzierte Staffage-Figur eines barfüßigen Dieners mit Turban und Wedel klassifizieren ihn aber auch als Archetypus eines exotischen Fremden.
Inszenierung + Selbst-Inszenierung
Offenbar hatte der Maharadscha für die Aufnahme wenig Zeit: Er bemühte sich keineswegs ins Atelier der Fotografen. Stattdessen wurde er nachlässig vor einem eilig zusammengestellten Hintergrund mit zerknautschtem Vorhang und verrutschtem Teppich platziert. Auch der Diener mag seinem Herrn keine Luft zufächeln und blickt recht gelangweilt.
Was ist Inszenierung durch den Fotografen, was Selbstinszenierung der Dargestellten auf solchen Bildern? Diese Fragen stellen sich bei historischen Aufnahmen von Brahmanen oder «Unberührbaren», Schlangenbeschwörern, Asketen und «Sadhus» – also «heiligen Männern», von Ureinwohnern abgelegener Insel-Gruppen wie den Andamanen oder halbnackten Tänzerinnen, die aufreizend in die Kamera blinzeln.
Mit Gewalt + Fusel gefügig gemacht
Solche Aufnahmen, die der britischen Öffentlichkeit ein vermeintlich wahres und reales Bild der Kronkolonie vermitteln sollten, entstanden zuweilen unter fragwürdigen Umständen. Um das gewünschte Foto zu erhalten, wurde manchmal Gewalt angewendet, mit der Staatsmacht gedroht oder großzügig Fusel ausgeschenkt, um die Porträtierten gefügig zu machen.
Schwer zu deuten ist der Blick einer jungen Frau vom archaisch lebenden Volk der Toda; das Bild ziert auch den Katalog. Schaut das Mädchen selbstbewusst oder scheu in die Kamera? Sind ihre Augen feucht vor Furcht, oder flirtet sie bereits kokett mit dem Fotografen, der 1875 in die Nilgiri-Berge in Südindien reiste, um Aufnahmen von «edlen Wilden» anzufertigen? Das Bild ist sorgsam komponiert: Die Haare des Mädchens wurden zu glänzenden Locken eingedreht und der Bildausschnitt zum Medaillon abgerundet.
Herrenmensch verschwindet unter Trophäen
Lesen Sie hier einen Beitrag über die Ausstellung "The Last Harvest" mit Gemälden von Rabindranath Tagore im Museum für Asiatische Kunst, Berlin und hier eine Besprechung der Ausstellung "India Awakens - Under the Banyan Tree" mit zeitgenössischer Kunst aus Indien im Essl Museum, Klosterneuburg bei Wien und hier eine Rezension des Dokumentar-Films "Der atmende Gott" von Jan Schmidt-Garre über die Ursprünge des YogaHintergrund
Die rund 300 Aufnahmen stammen aus dem Ethnologischen Museum Berlin und galten lange als Kriegsverluste. Erst in den 1990er Jahren sind aus Russland wieder zurück nach Berlin gelangt; nun wurden sie wissenschaftlich erfasst.
Profil-Porträts wie in Verbrecher-Kartei
Unstrittig ist, dass die Fotos im Kontext ethnografischer Propaganda des Kolonialismus zu verstehen sind. Das gilt nicht nur für anthropometrische Aufnahmen nackter Männer und Frauen, die vermessen und gewogen wurden, oder Frontal- und Profil-Porträts, die Polizei-Bildern in einer Verbrecher-Kartei ähneln, sondern auch für realistisch anmutende Folklore- oder Straßen-Szenen. So fordert die Schau dazu auf, den eigenen Blick auf diese Bilder zu überprüfen – zu sehen ist Indien, wie es Briten im 19. Jahrhundert sehen wollten.