
Das Ottoneum ist ein Meilenstein der Architektur-Geschichte, den keiner kennt: Es handelt sich um das erste fest stehende Theater-Gebäude in Deutschland und wurde 1606 fertig gestellt. Sein Grundriss ist außergewöhnlich: Der niederländische Architekt Wilhelm Vernukken gab ihm eine Trapez-Form.
Info
dOCUMENTA (13)
09.06.2012 – 16.09.2012
täglich 10 bis 20 Uhr an 26 Standorten in Kassel
Katalog 24 €,
Begleitband 68 €
Kunst kommt zurück ins Ottoneum
Für 100 Tage bringt documenta-Leiterin Carolyne Christov-Bakargiev (CCB) nun die Kunst zurück in seine Gemäuer: Hier werden Werke von acht Künstlern ausgestellt, die sich «Fragen von Saatgut und der Erzeugung von Erde, Leben, Nahrungsmitteln, Kunst, Geschichten, Intra-Aktion und In-der-Welt-Sein» widmen, wie der Katalog umständlich formuliert.
Impressionen der Ausstellung im Ottoneum
Mini-Skulpturen wie aus dem Asia-Souvenir-Shop
Doch im Ottoneum geht es recht übersichtlich zu: Nur das Erdgeschoss wurde für die documenta-Beiträge ausgeräumt. Ansonsten bleiben Fossilien, Herbarien und ausgestopfte Tiere an ihrem Stamm-Platz – Kinder der Stadt sollen auch in diesem Sommer die Geheimnisse des Lebens kennen lernen können.
Am Eingang erwarten putzige Mini-Skulpturen der norwegischen Künstlerin Aase Texmon Rygh aus den 1950er Jahren den Besucher: Ihre hölzernen Möbius-Bänder und stilisierten Figürchen sehen aus, als wären sie soeben im Asia-Souvenir-Shop erworben worden.
Lebender Nacktmulch im Aquarium
Links läuft ein Langzeit-Video des Lokal-Matadors Christian Peter Müller: Der in Kassel wohnende Künstler hat 2006 eine Pflanzen-Skulptur für die Abtei Stift Melk in Österreich geschaffen und abgefilmt: Man sieht in Echtzeit, wie sich Gräser im Wind wiegen – derlei bieten die Parks der Stadt als reality show rund um die Uhr.
Gegenüber stellt die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves Bemühungen von Indios in Mexiko um Reinhaltung ihrer regionalen Wasser-Reserven vor. Der voll gestopfte Raum birst schier vor Text-Tafeln, Modell-Ansichten und Fotos. Hingucker ist ein Aquarium, in dem ein lebender Axolotl schwimmt. Der Nacktmulch wurde in Deutschland durch den Roman-Bestseller «Axolotl Roadkill» von Helene Hegemann bekannt.
Souveräner Wald mit multimedialen Mitteln
Dahinter langweilt die Norwegerin Toril Johannessen mit einem Video, das die Sonne zeigt – als Mahnung, dass sie die erste und letzte Energiequelle für unseren Planeten darstellt. Auf der anderen Seite geht es dagegen sinnlicher, farbenprächtiger und anschaulicher zu.
Der Inder Amar Kanwar hat zwei Räume zur Groß-Installation «The Sovereign Forest» umgestaltet. Auch er will auf ein ökonomisch-ökologisches Problem aufmerksam machen – und zieht dafür alle Register, derer sich multimediale Kunst heutzutage bedient.
Schubladen voller Reis-Sorten aus Orissa
Im Raum verteilt sind Folianten im Pergament-Look, in denen die Besucher blättern dürfen. Auf jeder Doppel-Seite wird links der Kampf von Bauern im indischen Bundesstaat Orissa gegen Landraub beschrieben: Reiche Investoren vertreiben sie von ihren Feldern, um dort Landwirtschaft mit agro-industriellen Methoden zu betreiben.
Rechts wird auf jeder Seite ein dazu passendes Foto projiziert: Blättert man um, erscheint ein neues Bild. Kleine, an der Wand hängende Schubladen enthalten Körner Dutzender von Reis-Sorten, die traditionell in Orissa angebaut werden – diese Vielfalt droht durch die Invasion der Agro-Multis zu verschwinden. Im Saal nebenan zeigt ein Film Landschafts-Impressionen.
Boden-Währung soll Börsen-Spekulation eindämmen
Ähnlich abwechslungsreich ist die Installation «Soil-erg» der US-Künstlerin Claire Pentecost am Ende des Erdgeschosses: Sie beschäftigt, dass heutige Währungen meist nur noch durch Schuldverschreibungen gedeckt sind, was als einer der Auslöser für periodisch wiederkehrende Finanz-Krisen durch wilde Börsen-Spekulation gilt.
Bis 1973 war der US-Dollar als Welt-Leitwährung durch Gold-Reserven in Fort Knox gedeckt; dann zerbrach das Währungs-System von Bretton Woods mit festen Wechsel-Kursen. Pentecost schlägt die Einführung der neuen Währung «Soil-erg» vor, die durch Acker-Boden gedeckt werden soll – eine nicht beliebig vermehrbare Ressource, die ausufernde Spekulation eindämmen könnte.
Urban gardening in vertikalen Gärten
Mitten im Raum liegen Kompost-Stäbe in Form von Gold-Barren. Die Wände bedecken Scheiben aus Erde, die an Münzen erinnern; darunter finden sich Entwürfe für Geld-Scheine, die Gesichter und Symbole aus allen Erdteilen und Kulturen zeigen. Zudem hat Pentecost hinter dem Haus mit Erde gefüllte Zylinder aufgestellt, die als «Vertikale Gärten» zum Gemüse-Anbau in dicht besiedelten Gegenden dienen könnten: urban gardening in Rohr-Trommeln.
Die schönste Arbeit im Ottoneum findet sich jedoch im zweiten Stock: Dort wird die «Xylothek» aufbewahrt, die Carl Schildbach von 1771 bis 1799 anlegte. Sie ist die erste und umfangreichste «Holz-Bibliothek» der Welt: 530 «Bücher», aus jeweils einer Baum-Art samt Rinde geschnitten und innen mit Merkmalen dieser Spezies gefüllt – Blätter, Blüten, Samen und Wurzeln.
Innovativer Rückgriff auf Alten Meister
Diesem allerliebsten Kleinod der Botanik hat der US-Künstler Mark Dion nun die passende Behausung spendiert: ein sechseckiges Kabinett aus Eichenholz, in dem alle «Bände» von Schildbach aufgereiht sind und bequem betrachtet werden können. Manchmal ist der Rückgriff auf halb vergessene Alte Meister die innovativste Form zeitgenössischer Kunst.