Dieser Film ist ein Ereignis – und bereits hoch dekoriert: Lynne Ramsays Verfilmung des gleichnamigen Romans von Lionel Shriver erhielt 2011 den BAFTA-Award als «bester britischer Film» des Jahres. Hauptdarstellerin Tilda Swinton wurde zur «besten britischen Schauspielerin» gekürt; obendrein erhielt sie den Europäischen Filmpreis 2011.
Info
We need to talk about Kevin
Regie: Lynne Ramsay, 110 min., Großbritannien 2011;
mit: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller
Grauzone zwischen Täter + Opfer
Der Film lotet die Grauzone zwischen Täter und Opfer aus, bis die Grenzen zwischen beiden Rollen verschwimmen. So entsteht die unbarmherzige Bestandsaufnahme eines in untilgbare Schuld verstrickten Lebens, das von Sprachlosigkeit und Versagens-Ängsten geprägt ist.
Offizieller Film-Trailer, deutsch untertitelt
Amoklauf kurz vor dem 16. Geburtstag
Kevin richtet kurz vor seinem 16. Geburtstag mit einem Amoklauf ein Blutbad an. Seine Mutter Eva (Tilda Swinton) steht schockiert vor den Trümmern ihrer Existenz – und bleibt dennoch nach der Tat in ihrer kleinen Gemeinde wohnen. Wie lebt man weiter, wenn alles zerstört ist?
Fassungslosigkeit und der unermüdliche Versuch, das Geschehene zu verstehen, prägen Evas Dasein: Sie will stoisch weitermachen wie bisher, obwohl ihr Alltag von Hass und Ausgrenzung geprägt ist. Eva ist ein Opfer des Verbrechens wie diejenigen, die Kevin ermordet hat, und muss zugleich die Konsequenzen eines Täters auf sich nehmen.
Sohn ist von Anfang an schwierig
In kunstvoll verwobenen Rückblenden blättert die schottische Regisseurin Lynne Ramsay ein ganzes (Familien-)Leben auf. Sie malt ein visuell betörendes Stilleben; sie findet klare und zugleich assoziative Bilder, um das Innenleben von Eva darzustellen.
Der Film beginnt mit ungebundener und freier Leichtigkeit: «Ist es sicher?» fragt Franklin (John C. Reilly) seine Frau Eva, als sie verliebt miteinander schlafen. «Nein, es ist nicht sicher», antwortet sie – und wird prompt schwanger. Die Geburt ihres Sohnes wird Eva, die zuvor als Reise-Journalistin arbeitete, stark einschränken: Kevin ist von Anfang an schwierig und verschlossen.
Abwesender Vater durchschaut nichts
Eva bemüht sich, ihr Kind zu lieben und zu verstehen; dabei stößt sie an ihre Grenzen. Sie verzichtet auf Beruf und Stadtleben, um die Rolle einer Hausfrau und Mutter gut auszufüllen – doch ihr Leben wird nie erfüllt sein. Sie gewöhnt sich daran: Der abwesende Blick, die distanzierten Gesten von Tilda Swinton lassen dem Betrachter das Blut in den Adern gefrieren.
Das Gefühl, zu versagen und eine schlechte Mutter zu sein, lastet schwer auf Eva: Ihre Schuldgefühle und Ängste machen sie stumm und hilflos. Franklin ist meist abwesend – und als Vater und Ehemann blind für das, was vor sich geht: Er durchschaut nicht, wie beängstigend sich die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Eva und Kevin entwickelt.
Sohn gibt sich Geltungsbedürfnis hin
Tilda Swinton spielt diese Mutter mit solcher Entschlossenheit und Verletzlichkeit, dass den Zuschauer Mitleid, Wut und Hilflosigkeit überfallen. Kevin – von Ezra Miller intensiv und verstörend dargestellt – erlangt immer mehr Macht über das Leben der Familie.
Als Teenager wird er zunehmend gefährlicher: Er verliert sich in seinem Geltungsbedürfnis und verletzt dabei sogar seine kleine Schwester. Während seine Eltern die Augen verschließen, wird deutlich, dass diese Konstellation ein böses Ende nehmen wird.
Ouvertüre mit Tomaten-Krieg
Die Farbe Rot durchpulst den Film – als Farbe der Leidenschaft, als Warnung vor Gefahr und als Schatten der Erinnerung, die sich wie ein Schleier über die Wahrnehmung legt. Rote Farbe klebt wie Blut an der stigmatisierten Eva: eine moderne Lady Macbeth, die vergeblich versucht, ihre Hände rein zu waschen.
In der grandiosen Eröffnungs-Szene sehen wir Eva an der «Tomatina» teilnehmen – in der spanischen Kleinstadt Buñol wird alljährlich Ende August ein «Tomaten-Krieg» ausgefochten. Knöcheltief watet die Menschen-Menge durch roten Matsch zerquetschter Tomaten; alle Körper sind rot besudelt.
Bedrohung einer tickenden Zeitbombe
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Lobes-Hymne auf das rumänische Mutter-Kind-Drama "Periferic" von Bogdan George Apetri
und hier eine Besprechung des norwegischen Mutter-Kind-Psychothrillers "Babycall" von Pål Sletaune mit Noomi Rapace
und hier das Interview "Liebe löst Revolutionen aus" mit Tilda Swinton über ihren Film "I am love".
Handkamera, harte Schnitte, Unschärfen und Geräusche werden von Regisseurin Ramsay wirkungsvoll eingesetzt; Kostüme und Ausstattung in klaren, hypnotischen Cinemascope-Bildern vermitteln Enge und Verlorenheit, Stillstand und Ausweglosigkeit. Der Film zieht den Zuschauer in seinen Bann, obwohl das aufmerksame Hinsehen geradezu schmerzt.
Besser früher mit Kevin sprechen
Am Ende steht ein Gespräch von Eva mit Kevin, als sie ihn am zweiten Jahrestag seines Amoklaufs im Gefängnis besucht: Es bringt keine Antwort, aber es ist ein Dialog. «Du siehst nicht glücklich aus», sagt Eva zu ihrem Sohn, die ihren Sohn in diesem Moment erstmals bewusst wahrzunehmen scheint und ihn darauf anspricht.
«We need to talk with Kevin» wäre vermutlich der bessere Ansatz für Eva gewesen, der in ihrer Familie zu Miteinander und Ehrlichkeit hätte führen können. Denn die Frage nach Opfer, Täter und dessen Schuld ist ausweglos: In einem Fall wie diesem gibt es nur Verlierer und keine Erlösung.