Das Ende der weltgrößten Ausstellung von Gegenwarts-Kunst naht: Höchste Zeit, bisher vernachlässigte Werke zu begutachten. Es lohnt sich: Abseits ausgetretener Pfade finden sich manche Kleinode, die interessanter sind als die zu Tode fotografierten Arbeiten an den Haupt-Schauplätzen.
Info
dOCUMENTA (13)
09.06.2012 – 16.09.2012
täglich 10 bis 20 Uhr
an 26 Standorten in Kassel
Katalog 24 €
Begleitband 68 €
Kassels wichtigster Touristen-Magnet
Was natürlich nicht für das Brüder-Grimm-Museum im Palais Bellevue unmittelbar gegenüber der Neuen Galerie gilt. 1714 als Observatorium errichtet, wurde es bald in ein Wohnhaus für Angehörige des Fürstenhauses umgewandelt. Seit 1972 werden hier die Begründer der Germanistik gewürdigt; die von ihnen gesammelten Märchen sind bis heute Kassels wichtigster Touristen-Magnet.
Impressionen der Ausstellung
Ritter-Spiele
Während der documenta darf Nedko Solakov das Erdgeschoss «bespielen». Diese oft alberne Kunstbetriebs-Metapher passt hier genau: Der Bulgare lässt seinem Spiel-Trieb freien Lauf. Als Junge wollte er Ritter werden. Nun erfüllt er sich einen Kindheits-Traum mit eigens für ihn angefertigter Rüstung, Accessoires der Malteser-Ritter und 1000 Kleinigkeiten: vom Spielzeug-Hubschrauber bis zum Video-Spiel. Da machen große und kleine Männer Augen; sie lieben seine über mehrere Räume verteilte Installation.
Gegenüber beginnt die Friedrichsstraße: An der nächsten Kreuzung steht eine ehemalige Bäckerei mit der Post-Anschrift Obere Karlsstraße 4. Hier zeigt der Belgier Francis Alÿs Szenen-Bilder seines Films «REEL – UNREEL»; kleine Zeichnungen und Öl-Bilder.
Kunst am und im Bau
Der Film handelt von Kinder-Spielen in Kabul und soll zeigen, dass geläufige Motive aus Afghanistan eine Fiktion des Westens sind – was sich aus Skizzen im Postkarten-Format kaum erschließt. Eindrucksvoll ist die Raum-Installation von Paul Chan, Haus Friedrichsstraße 28: Der in den USA lebende Chinese bemalt Einbände gebrauchter Bücher – meist monochrom, zuweilen realistisch. 600 davon bedecken die Wände als farbenfrohes Mosaik.
Direkt gegenüber befindet sich das Hugenotten-Haus: Das mehrstöckige Wohnhaus von 1826 steht seit den 1970er Jahren leer. Hier hat sich Theaster Gates mit Freunden und Mitarbeitern eingenistet: Der Schwarze aus Chicago wandelt seit Jahren ein ähnliches Gebäude seiner Heimatstadt in ein Kultur-Zentrum um. Das Gleiche erprobt er während der documenta-Laufzeit in Kassel – und nutzt dafür aus Chicago importiertes Bau-Material.
Anfangs sah es im Haus düster aus: Die heruntergekommene Einrichtung glich einer Rattenburg. Jetzt haben sich die pragmatischen Amis wohnlich eingerichtet. Aus Schrott und Schutt basteln sie originelle Behelfs-Konstruktionen und kleine Objekt-Installationen: Hinter jeder Tür lauert eine Überraschung. Nebenbei unterhalten sie mit Kleinkunst-Programmen ihre Besucher – von denen sich mancher an seine Jugend als Hausbesetzer erinnert fühlen dürfte.