Die Geschichte der Verdingkinder klingt unglaublich – erst in jüngster Zeit verschaffen sich die Betroffenen Gehör. Von 1800 bis etwa 1950 wurde in der Schweiz schwunghafter Menschen-Handel mit Minderjährigen betrieben.
Info
Der Verdingbub
Regie: Markus Imboden, 103 min., Schweiz 2012;
mit: Max Hubacher, Katja Riemann, Stefan Kurt
Rechtlos + ausgebeutet
Entmündigt und ohne Bezahlung wurden Kinder als rechtlose Arbeitskräfte ausgebeutet. Dabei waren sie der Willkür ihrer Pflege-Familien ausgeliefert, was etlichen sogar das Leben kostete: ein amtlich organisierter Sklaven-Handel im Europa des 20. Jahrhunderts.
Offizieller Film-Trailer
Klaustrophobie in Alpen-Tälern
Regisseur Markus Imboden bringt dieses dunkle Kapitel der eidgenössischen Geschichte in einem Spielfilm auf die Leinwand, der das Genre des malerischen Heimat-Films auf den Kopf stellt: Malerisch ist in «Der Verdingbub» gar nichts.
Die alpine Berg-Landschaft wirkt erdrückend; auf Wiesen und Feldern wird harte Arbeit geleistet. Dort lebende Bauern erwirtschaften nur das Existenz-Minimum; ihre alten Häuser gleichen Gefängnissen, die Klaustrophobie auslösen.
Vater säuft, Mutter hält Geld zusammen
Auch auf dem Hof der Familie Bösiger kämpfen drei Generationen um ihr Überleben. Der Jungbauer (Max Simonischeck) würde gerne den Hof übernehmen, doch die Einsamkeit macht ihm zu schaffen. Der Vater (Stefan Kurt), ein Trinker und hartherziger Mann, verachtet sich und seine Umwelt.
Die Bäuerin (Katja Riemann) erträgt ihre ehelichen Verpflichtungen mit Abscheu. Sie pflegt die alte Schwiegermutter und versucht, das Geld zusammenzuhalten, damit ihr Mann nicht Haus und Hof versäuft. Inmitten dieses Elends sitzen nun die verdingten Kinder Max (Max Hubacher) und Berteli (Lisa Brand).
Kleine Fluchten mit der Hand-Orgel
Beide müssen hart arbeiten und dürften nur manchmal zur Schule gehen; ohne Fürsorge und Zuneigung stehen sie in der Hackordnung des Hofes ganz unten. Als der Jungbauer beginnt, sich an Berteli zu vergehen, eskalieren die Konflikte.
Max‘ einziger Besitz ist eine Hand-Orgel; von seiner Mutter hat er gelernt, wie man sie spielt. Musik lässt ihn seine Menschlichkeit bewahren und verhilft ihm zu kleinen Fluchten aus seinem unerträglichen Alltag. Gefördert von einer modernen Lehrerin aus der Stadt, die das engstirnige Denken der Bauern verändern will.
Unnötige Synchron-Fassung
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Sommer der Gaukler" von Marcus H. Rosenmüller über Proto-Klassenkampf in den Alpen
und hier einen Beitrag über den Schweizer Film "Ein Sommersandtraum" von Peter Luisi
und hier eine kultiversum-Lobeshymne auf den Film "Bergblut" von Philipp Pamer über den Tiroler Volksaufstand 1809.
Obwohl der Film dicht und stringent erzählt, hält er den Zuschauer emotional immer ein wenig auf Distanz. Was einerseits an der hochdeutschen Synchron-Fassung liegt, die ihm seine Authentizität raubt; als werde deutschen Zuschauern nicht zugetraut, Untertitel lesen zu können.
Katja Riemann als Fremdkörper
Andererseits wirkt Katja Riemann als Bösigerin wie ein Fremdkörper in diesem Szenario. Allzu aufgesetzt wirken Gesten, Habitus und Spiel: Da helfen auch falsche Zähne und verwuschelte Haare nicht. Die jugendlichen Hauptdarsteller Max Hubacher und Lisa Brand berühren allerdings mit intuitivem und klarem Spiel.
Heute leben heute noch etwa 10.000 ehemalige Verdingkinder. Einige Kantone haben sich offiziell bei ihnen für ihre geraubte Kindheit entschuldigt, doch entschädigt wurden sie bislang nicht. Das Thema bewegt weiter die Eidgenossen: In der Schweiz sahen 235.000 Zuschauer dieses Drama im Kino – eine stolze Zahl.