Leipzig

Jugendstil bis Gegenwart – Design im 20. Jahrhundert

Art-Déco-Pfeilerhalle im Grassi-Museum. Foto: Christoph Sandig, Leipzig/ Grassimuseum
Die unübersehbare Fülle der Dinge: Das Grassimuseum hat den letzten Teil seiner Dauerausstellung von Kunsthandwerk eröffnet. Damit ist der Gebäude-Komplex erstmals seit 73 Jahren wieder vollständig zugänglich.

«Es ist voll Pracht»: Mit diesem Wortspiel wirbt das Museum für Angewandte Kunst für seine neue Dauerausstellung von Design im 20. Jahrhundert. Selten ist ein vollmundiger Reklame-Slogan so berechtigt wie hier: Zum ersten Mal seit 73 Jahren sind alle Bereiche des Grassimuseums wieder vollständig zugänglich.

 

Info

Jugendstil bis Gegenwart - Design im 20. Jahrhundert

 

ab 04.03.2012
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr im GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, Leipzig

 

Katalog 9,50 €

 

Website zur Ausstellung

Der Komplex beherbergt drei Museen: neben dem für Angewandte Kunst ein zweites für Völkerkunde sowie eine Musikinstrumente-Sammlung. Als er 1929 eingeweiht wurde, war er einer der modernsten und schönsten Museums-Bauten in Deutschland.

 

«Ananas» auf dem Dach

 

Um vier Innenhöfe fächern sich sechs Gebäude-Flügel aus rotem Porphyr-Stein auf; den Mittelflügel krönt eine abstrakt-expressive Skulptur, die im Volksmund «Ananas» genannt wird. Im Inneren verfügt das Haus über eine einmalige Pfeilerhalle: Ihre leuchtend roten Dreieck-Pfeiler, goldene Galerie und Oberlichter in Rhomben-Form sind komplett im Art-Déco-Stil gehalten.


Impressionen der Ausstellung


 

1500 Exponate auf zwei Etagen

 

Doch bereits 1939 wurde der Bau kriegsbedingt geschlossen und später durch Bomben schwer beschädigt. Zu DDR-Zeiten notdürftig instand gesetzt, war nach der Wende eine Total-Sanierung fällig. Seit 2007 wurde die ständige Ausstellung sukzessive wieder eröffnet: Zuerst Kunsthandwerk von der Antike bis zum Historismus, dann 2010 Räume mit asiatischer Kunst und nun die Sammlung vom Jugendstil bis zur Gegenwart.

 

Sie ist im letzten Jahrzehnt vor allem durch Schenkungen um 17.000 Objekte gewachsen. Damit kann das 1874 gegründete Museum Lücken ausgleichen, die durch Krieg und Devisen-Mangel entstanden sind. Auf zwei Etagen werden nun 1500 Exponate auf insgesamt 1200 Quadratmetern Fläche gezeigt: eine umfassende tour d´horizon zur Gestaltung im 20. Jahrhundert.

 

Ankäufe auf Pariser Weltausstellung 1900

 

Das Obergeschoss ist als verwinkelter Parcours einzelner Kabinette angelegt, wodurch sich einzelne Epochen übersichtlich voneinander abgrenzen. Fulminant gerät der Auftakt mit Werken des Jugendstils: Zur Jury der Pariser Weltausstellung 1900 zählte auch Grassi-Direktor Richard Graul, der im großen Stil Spitzen-Stücke ankaufte.

 

Etwa Gläser und Vasen von Emile Gallé und Louis Comfort Tiffany, Schmuck von René Lalique oder Geschirr von Henry van de Velde: Dokumentiert wird die europaweite Verbreitung des Jugendstils mit seinem an Tier- und Pflanzenformen angelehnten Dekor. Anschließend macht die Art-Déco-Abteilung deutlich, welche Spielarten diese Stilrichtung aufweist: Hier finden sich neben dynamischen Zacken und Stromlinien auch Neo-Rokoko und neusachliche Entwürfe, die auf den Funktionalismus hinführen.

 

Messe-Stand von 1936 rekonstruiert

 

Der ist im Grassi mit Arbeiten aus dem Bauhaus und den Werkstätten der Stadt Halle auf Burg Giebichenstein besonders gut vertreten: Beiden Einrichtungen war das Museum schon früh verbunden. Zudem richtete es seit 1920 zeitgleich zur Leipziger Handelsmesse die Grassimesse aus – und kaufte prämierte Werke häufig auf.

 

Womit es nicht nur Muster-Zimmer ausstattete, die nun als beispielhafte Einrichtungen zu sehen sind, sondern auch wegweisende Designer an sich band. Wie Wilhelm Wagenfeld, den vermutlich bedeutendsten deutschen Glas-Gestalter: Ab 1936 präsentierte er seine Kollektionen auf der Grassimesse – in einem eigens dafür angefertigten Stand, den die Innenarchitektin Lilly Reich entworfen hatte. Ihre Schau-Möbel wurden im Krieg zerstört und nun nach den Original-Entwürfen rekonstruiert; dieser Glas-Kubus ist ein transparentes Kleinod der Ausstellung.

 

Ähnliches Design in Ost + West

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Marcel Breuer: Design und Architektur"  im Bauhaus Dessau

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Maniera moderna" über den italienischen Architektur-Designer Carlo Mollino im Haus der Kunst, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tschechischer Kubismus im Alltag" im Grassi-Museum, Leipzig.

Das Erdgeschoss ist hingegen ein offener, durchgängig einsehbarer Raum; dadurch lassen sich die gezeigten Objekte aus der Nachkriegszeit leichter wechseln. Hier fällt auf, dass sich zeitgemäße Gestaltung in Ost und West lange nicht sonderlich unterschied: von Schichtholz- und Kunststoff-Möbeln über die Weltraum-Begeisterung der 1960er Jahre, die heute retrofuturistisch anmutet, bis zum organisch gerundeten Plastik-Pop der 1970er Jahre. Das Gleiche gilt für Industrie-Design: Hifi-Technik aus der DDR ähnelt westdeutschen Braun-Geräten.

 

Design-Liebhaber finden zahlreiche Klassiker wieder: etwa den «Lounge Chair» von Ray und Charles Eames, die «Tulpen-Stühle» von Eero Saarinen oder den «Panton Chair»: Ab 1970 wurde der Freischwinger gänzlich aus Polysterol gegossen. Solche weltweit verbreiteten Design-Ikonen kontrastieren mit Einzelstücken und Kleinserien aus Keramik, Glas oder Edelmetallen.

 

Katalog + Medien-Stationen erläutern Fülle der Dinge

 

In dieser unübersehbaren Fülle der Dinge ist der kleinformatige und günstige Katalog ein unentbehrlicher Begleiter: Er erklärt knapp und präzise, wer was nach welchen Prinzipien entworfen hat. Lichtempfindliche Arbeiten wie Textilien und Gebrauchsgrafik werden an sechs Medien-Stationen vorgeführt. Sie erläutern zudem stilgeschichtliche Zusammenhänge: Damit wird die Alltagskultur eines ganzen Jahrhunderts auf dem neuesten technischen Stand vermittelt.