Alle Eindrücke ändern sich, wenn im Winter die Welt erstarrt: Bewegtes Treiben nimmt ab und wird leiser, denn Schnee schluckt viel Schall. Hört man weniger, wird Sehen wichtiger – und zugleich das Tageslicht kürzer und kostbarer. Dämmerung entsättigt alle Farben; entlaubte Baumkronen erscheinen als wirres Linien-Gespinst, das auf Wiederbelebung wartet. Genau die richtige Jahreszeit für Fotografien von Abbas Kiarostami.
Info
Abbas Kiarostami:
Stille und bewegte Bilder
10.10.2012 - 20.01.2013
mittwochs bis freitags
14 bis 18 Uhr, am Wochenende und feiertags ab 12 Uhr im Museum Situation Kunst, Nevelstr. 29c, Bochum
Katalog 24 €;
im Handel 39 €
12.04.2013 - 30.06.2013
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 20 Uhr im Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2
14.07.2013 - 29.09.2013
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr in den Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz 1
Liebling der Film-Wissenschaft
Das brachte ihm Auszeichnungen der wichtigsten Festivals ein: 1997 erhielt er in Cannes die Goldene Palme für «Der Geschmack der Kirsche», 1999 den Großen Preis der Biennale-Jury für «Der Wind wird uns tragen». Und machte Kiarostami – der weiter im Iran lebt, obwohl er seine Filme nur noch im Ausland drehen und zeigen kann – zum Liebling der Film-Wissenschaft: Ausgiebig analysiert sie seine Wirklichkeits-Konstruktion im Film auf mehreren Bild-Ebenen.
Was man getrost beiseite lassen darf, wenn man seine Fotografien betrachtet: Sie wirken unmittelbar auf die Sinne. Das Museum Situation Kunst, die Sammlungen der Ruhr-Universität Bochum, zeigt erstmals im deutschsprachigen Raum diese Aufnahmen, ergänzt um einen Film und drei Video-Arbeiten; danach wandert die Ausstellung nach Wiesbaden und Chemnitz.
Fotos als zeitlos schöne Graphiken
Die Serie Snow White entstand zwischen 1978 und 2004 im Iran, doch ihre Motive finden sich alljährlich auch hierzulande: kahle Bäume in dichter Schneedecke. Sie planiert die Landschaft zur ebenen Bildfläche, die in allen Nuancen von strahlend Weiß bis Dunkelgrau schimmert. Worauf Stämme und Zweige ihre Schatten werfen, die Kiarostami zu delikaten Arrangements komponiert.
Oft verweilt er lange in der Natur und wartet auf den entscheidenden Augenblick, in dem ein bestimmter Lichteinfall exakt das erhoffte Bild erzeugt: «Die Fotografie ist das einzige Mittel, das uns den Luxus erlaubt, solche einzigartigen Momente ewig festzuhalten» – womit er sie in zeitlos schöne Graphiken verwandelt.
Straßen als Lebensweg-Metaphern
Mit angeschnittenen Perspektiven und starken Hell-Dunkel-Kontrasten, sorgfältig im Bildraum verteilt und ausbalanciert, erinnern diese Fotos an zen-buddhistische Tusche-Malerei, die sich mit knappen Akzenten begnügt. Ihrer Ästhetik der Leere fühlt sich Kiarostami verbunden; er dichtet auch Verse, die an japanische Haikus angelehnt sind.
Weniger reduziert, aber ebenso einprägsam sind Aufnahmen winterlicher Straßen aus der Serie Roads: Auf ihnen erlaubt der Horizont räumliche Orientierung. Fahrbahnen, die ihm entgegen streben oder sich aus dem Bild schlängeln, lassen kaum an Fortkommen denken, sondern an gestische Malerei – und an die Metapher vom Lebens-Weg. Das legt der 32-minütige Film Roads of Kiarostami nahe, in dem eine Kamera Fotos der gewundenen Bänder abfährt, während der Regisseur Gedichte rezitiert.
Neunminütiger Auszug aus dem Film "Roads of Kiarostami", unterlegt mit spanischem Kunstgesang; © Omar Fernandes Aly
Schlechtwetter-Reize deutlich fixiert
Gleichfalls auf Straßen entstand 2007 die Serie Rain and Wind – was aber nur am Fluchtpunkt zu erahnen ist, auf den ihre Ränder zulaufen. Kiarostami fotografierte aus seinem Wagen heraus durch die Scheiben bei Regen, womit er den Blick auf das Lichterspiel am Glas lenkt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films
"Die Liebesfälscher – Copie Conforme" von Abbas Kiarostami mit Juliette Binoche
und hier eine Besprechung der Ausstellung
"Die Geometrie des Augenblicks" zur Landschafts-Fotografie von Henri Cartier-Bresson im Kunstmuseum Wolfsburg
sowie einen Bericht über die Ausstellung "Weltsichten –
Landschaft in der Kunst vom 17. bis zum 21. Jahrhundert" im Museum Dieselkraftwerk, Cottbus
Sauna-Kurzfilm für die Seele
Ähnliche Eindrücke vermitteln drei Digital-Videos: Feste Einstellungen lassen den Betrachter minutenlang denselben Ausschnitt betrachten. Zwei wurden am Strand aufgenommen: Passanten und Enten wandern durchs Bild oder Wellen spülen Eier ins Meer, während die rollende Brandung das Verstreichen der Zeit bewusst werden lässt – unspektakulär und elementar wie ein Tag am Meer.
Ausgefeilter ist die Installation A Summer Afternoon. Gefilmt wurden halbtransparente Fenster-Vorhänge, die sich im Luftzug bauschen; derweil sorgt ein Ventilator für eine leichte Brise. Mit sparsamsten Mitteln ruft Kiarostami die Empfindung eines heißen Sommertags hervor; weil fast nichts passiert, lädt der Anblick zur Kontemplation ein. Ein Sauna-Kurzfilm für die Seele, bevor sie wieder in grimmige Kälte hinaus muss, um monatelang auf das nächste wärmende Sonnenbad zu warten.