«Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich»: Mit diesem vielzitierten Satz beginnt Leo Tolstois Roman «Anna Karenina» von 1877. Eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Weltliteratur kommt neu ins Kino: Das Drehbuch schrieb der Dramatiker Tom Stoppard, Regisseur Joe Wright hat es als bildgewaltigen Kostümfilm inszeniert.
Info
Anna Karenina
Regie: Joe Wright, 129 min., Großbritannien 2012;
mit: Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson
Dritte Roman-Verfilmung von Wright + Knightley
Joe Wright hat sich mit den hervorragenden Roman-Verfilmungen «Stolz und Vorurteil» (2005) und «Abbitte» (2007) einen Namen gemacht: In beiden spielte Keira Knightley ebenfalls die Hauptrolle. Mit «Anna Karenina» gelingt Wright ein phantasievoller Historien-Film, der durch perfekte Ausstattung und viel Liebe zum Detail visuell verführt.
Offizieller Filmtrailer
Erstmals in ihrem Leben verliebt
Anna Karenina (Keira Knightley) ist mit leidenschaftlichem Willen nach Selbstbestimmung ihrer Zeit voraus, auch wenn sie selbst anfangs davon noch nichts weiß. Als vorbildliche Ehefrau des hochrangigen Beamten Alexej Karenin (Jude Law), mit dem sie einen Sohn hat, genießt sie ein privilegiertes Leben in der adeligen high society von St. Petersburg.
Als sie nach Moskau reist, um die Ehe ihres Bruders Oblonskij mit seiner Frau Dolly zu retten, verändert das ihr Leben: Sie lernt den jungen und charismatischen Grafen Wronskij (Aaron Taylor-Johnson) kennen. Beide fühlen sich sofort voneinander angezogen. Anna verliebt sich erstmals in ihrem Leben und fühlt, welche Leere sie bis dahin umgeben hat.
Ächtung + Isolation nach Fehltritt
Zu Gast in Moskau ist auch der bodenständige und schüchterne Gutsbesitzer Levin (Domhnall Gleeson), der in Dollys jüngere Schwester Kitty (Alicia Vikander) verliebt ist. Kitty wiederum hofft auf einen Antrag von Wronskij. Vergeblich: Anna und Wronskij beginnen eine heftige Liebesaffäre.
Das löst bald einen Skandal aus: Beide nehmen keine Rücksicht auf doppelmoralische Spielregeln der adeligen Gesellschaft und bringen dadurch Annas Gatten in eine peinliche Lage. Doch Anna ist nicht zu Kompromissen bereit und will sich nicht mehr in ihr altes Leben fügen. Für ihren Fehltritt straft sie ihre Umwelt mit Ächtung und Isolation, was die Beziehung von Anna und Wronskij sehr belastet.
Positiv-Beispiele in Liebe + Ehe
Währenddessen finden Kitty und Levin langsam zueinander und werden auf seinem Landgut in der Provinz glücklich: als Beispiel einer zarten und reinen Liebe. Dagegen demonstrieren Oblonskij und Dolly, wie man eine zerrüttete Ehe weiterführt, ohne die Spielregeln der Gesellschaft zu brechen.
Karenin versucht, mit rationaler Strenge seinen Kummer zu besiegen und sein Gesicht zu wahren. Anna und Wronskij müssen jedoch erkennen, dass sie für ihre Leidenschaft und Ehrlichkeit einen hohen Preis zahlen. Schließlich besiegelt eine weitere Reise Annas Schicksal.
Seelen-Drama spielt sich auf Theater-Bühne ab
Ihr Seelen-Drama spielt sich quasi als Bühnenstück in einem Theater ab: als Metapher für die artifizielle Umgebung der Adels-Gesellschaft, in der alle ihre Rollen übernehmen und jeder jeden beobachtet.
Mit Kulissen und geschickten Überblendungen werden die verschiedenen Schauplätze vor den Augen des Zuschauers montiert und wieder zerlegt: In Zeiten von 3D-Hysterie eine wunderbar altmodische Idee, um das Handwerk der Illusionen offen zu legen und seinen Reiz zu entfalten.
Keine verzehrende Leidenschaft bei Knightley
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Lobes-Hymne auf den Film "Stille Seelen – Ovsyanki" von Alexej Fedorchenko, ein elegisches road movie über Merja-Bestattung in Russland
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900 – 1930" über diesen Fotografie-Stil im Martin-Gropius-Bau, Berlin.
Doch so ganz will das ambitionierte Konzept von Stoppard und Wright nicht aufgehen, was am eher behaupteten Spiel von Keira Knightley liegt. Der verzehrenden Leidenschaft ihrer Figur – einer Frau, die ihrem Herzen folgt und dabei alles verliert – ist die Schauspielerin nicht immer gewachsen; sie wirkt zuweilen etwas hölzern.
Film entspricht Heldin-Charakter
Dennoch ist «Anna Karenina» ein gelungener Augenschmaus. Mit opulenter Ausstattung und Schwelgerei in ambitioniertem Konzept-Kino entspricht der Film dem Charakter seiner Heldin: zu viel, zu heftig, zu direkt. Und doch ist man froh, dabei zu sein; die Sünde hat eben ihren Preis!