Karlsruhe

Camille Corot: Natur und Traum

Camille Corot: Der See, Nachtstimmung; ca. 1870, 55,7 x 81,5 cm. Foto: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
In Frankreich gilt Corot als bedeutendster Landschafts-Maler des 19. Jahrhunderts. Die Kunsthalle zeigt nun seine erste große Retrospektive in Deutschland: eine fulminante Ausstellung, die düstere Aspekte seines Werks offenbart.

Traum oder Albtraum?

 

Im Grußwort zur Ausstellung schreibt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Corot habe seine Natur-Erfahrungen «in geradezu traumhaft anmutender Weise» umgesetzt. Doch seine Palette verunklart und verdüstert sich im Lauf der Jahre, wie die Ausstellung deutlich macht; seine Figuren entziehen sich zunehmend in mythologischem Halbdämmer. Da drängt sich die Frage auf, ob es sich nicht eher um Albträume gehandelt haben könnte.

 

Als wollten sie die dunklen Schleier widerlegen, tauchen auf Gemälden ab 1860 nachträglich gesetzte Farbtupfer auf: Blüten auf Wiesen, Büschen und Bäumen. Je freigiebiger der Maler in seinem Alterswerk winzige Farblichter setzt, desto ambivalenter wirken Bilder, in denen Figuren wie Wiedergänger umgehen: Irrlichter im Moor, die ins Amphibische zurückkehren.

 

Düstere Blumen des Bösen

 

Sein Freund Gérard de Nerval ließ ein Gedicht mit den Worten «Ich bin der Düstere» beginnen; der romantische Schriftsteller beging 1855 Selbstmord. Auch Charles Baudelaire, Autor der berühmten Gedicht-Sammlung «Die Blumen des Bösen», war ein Verehrer Corots.

 

Das sollte man ernst nehmen, und es sich nicht zu leicht machen mit diesem Maler und seinen Träumen. Als seine Eltern ihn fragten, wann er zu heiraten gedenke, entgegnete er, dafür nicht zu taugen, da er sich ganz seinen Obsessionen widmen müsse.

 

Leben als Erinnerung

 

Im Bild «Erinnerung an Mortefontaine» zitiert Corot einen Ort, an dem de Nervals Novelle «Sylvie» von 1853 spielt; dessen Held beklagt den Verlust von drei Frauen. An welchen Verlusten – neben dem Tod seiner Schwester – Corot gelitten haben mag, bleibt sein Geheimnis.

 

Doch seine Gemälde der letzten Schaffensperiode ab 1860 sind fast durchweg Erinnerungsbilder, oft explizit so benannt. Meinen sie Erinnerungen an Landschaften, die in der Industrialisierung und Zersiedelung des 19. Jahrhunderts vor den Augen seiner Generation verschwanden?

 

Souvenir-Bilder weisen in die Zukunft

 

Hintergrund

Lesen Sie hier einen Beitrag zur Ausstellung “Weltsichten - 
Landschaft in der Kunst vom 17. bis zum 21. Jahrhundert
” mit Werken
von Camille Corot im Museum Dieselkraftwerk, Cottbus

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Turner-Monet-Twombly:
Later Paintings
" zur Landschafts-Malerei in der Staatsgalerie Stuttgart

 

sowie eine Besprechung der Ausstellung “Claude Lorrain: Die verzauberte Landschaft
mit Werken des 17. Jahrhunderts im Städel Museum, Frankfurt/Main.

Oder galt Corots Erinnerung Menschen, denen er auf seinen zahlreichen und intensiven Reisen begegnet war; wie bei jenem Rückenakt von «Marietta à Rome», den er bis an sein Lebensende im Atelier bewahrte? Im vorletzten Saal der Ausstellung wird deutlich, dass ihn die Gestaltung dieser Erinnerungen auch frei machte.

 

Dort sind vier raumhohe Hochformate mit Landschafts-Szenen zu sehen. Diese «Souvenir-Bilder» entstanden für das Haus eines Freundes und wurden später zerstreut; nun hängen sie für kurze Zeit wieder nebeneinander. Ihr freier Mal-Duktus weist motivisch wie technisch in die Zukunft; sie wird abschließend mit Werken seines Schülers Pissarro sowie von Cézanne, Monet und Odilon Redon angedeutet.

 

Rom-Blick wie bei R.D. Brinkmann

 

Corot «hat alles vorweggenommen», pries ihn sein Verehrer Edgar Degas. Wie die Schau zeigt, hat er selbst die Schnappschuss-Fotografie des 20. Jahrhunderts bereits malerisch beherrscht: Die Perspektive seiner grandiosen römischen Miniatur «Blick aus dem Fenster» von 1825 kehrt 150 Jahre später etwa in «Rom, Blicke» von Rolf Dieter Brinkmann wieder. Das Motto dieses Buches, nebenbei bemerkt, ist ein Zitat von Hans Henny Jahnn und lautet: «Träume, diese Blutergüsse der Seele».