
Prostitution gilt meist als Einbahnstraße zwischen den Geschlechtern: Männer kaufen Frauen, die ihre Haut zu Markte tragen. Dass und warum auch Frauen für Liebesdienste bezahlen, kommt selten zur Sprache – und noch seltener auf die Leinwand.
Info
Paradies: Liebe
Regie: Ulrich Seidl, 120 min., Österreich/Deutschland/
Frankreich, 2012;
mit: Margarete Tiesel,
Peter Kazungu, Inge Maux
Daheim kaum Chancen auf Partner
Teresa (Margarethe Tiesel) ist Anfang 50 und Behinderten-Betreuerin in Wien. Als alleinstehende Mutter mit aufgeschwemmten Rundungen hat sie daheim kaum Chancen auf einen neuen Partner. Das ersehnte Gefühl, begehrt zu werden, sucht sie in einem all inclusive resort am Indischen Ozean.
Offizieller Filmtrailer
Zwei-Klassen-Gesellschaft am Strand
Am Palmenstrand wird sofort klar, welche Zwei-Klassen-Gesellschaft hier herrscht: Von Wächtern geschützt, rösten die Weißen aufgereiht in der Sonne. Vor einer Absperrung warten schwarze beachboys geduldig auf potentielle Kundinnen. Geht Teresa ans Wasser, wird sie sofort umringt. Knackige Jungs bieten ihr Tinnef zu Mondpreisen an; bei Gefallen noch mehr.
Anfangs geniert sich Teresa; dann geht sie – angefeuert von ihrer Ferien-Freundin Inge (Inge Maux), die als Stammgast die Spielregeln kennt – zögerlich darauf ein. Ihr erster lover behandelt sie im Stundenhotel so ruppig, dass sie weinend flieht. Der zweite überzieht, als er viel Geld für einen Bruder verlangt, der nach einem Unfall im Krankenhaus liege.
Zuneigung und Zärtlichkeit nicht inbegriffen
Fortan weist Teresa zudringliche Angebote ab – bis sie Munga (Peter Kuzungu) trifft. Er schmeichelt ihr mit Komplimenten und lässt sie für gute Zwecke spenden: arme Schulkinder oder das Baby seiner angeblichen Schwester. Die sich als seine Frau entpuppt, was die Genarrte zynisch werden lässt; mit drei anderen sugar mamas feiert sie eine bizarre Orgie. Der strippende Jüngling kann aber nicht verbergen, dass ihn welkes Fleisch wenig animiert.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Paradies: Glaube" von Ulrich Seidl, der zweite Teil seiner Paradies-Trilogie
und hier einen Beitrag über den Film "Nairobi Half Life" von Tosh Gitonga aus Kenia, produziert von Tom Tykwer
und hier eine Kritik der Doku “Whores’ Glory – Ein Triptychon” von Michael Glawogger über Prostitution weltweit.
Blinde Flecken im Tropen-Licht
Ihre Desillusionierung verfolgt der Film in dokumentarisch anmutenden Szenen. Sie wirken absolut authentisch, weil er nichts auslässt: von schlecht simulierten Flirts zwischen Menschen, die sich weder verbal noch mit Körpersprache verstehen, bis zu grotesken Missverständnissen auf der Bettkante. Das mutet Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel bewundernswerte Selbstentblößung zu, wobei ihr Humor nie die Tristesse des Ganzen verhehlt.
Regisseur Seidl zeigt das vermeintliche Exotik-Paradies als Neuauflage kolonialer Abhängigkeit mit unverhüllter Ausbeutung. Die er ungeschönt registriert, ohne seine Figuren zu denunzieren: Jede füllt nur eine Rolle aus, die ihr die Machtverhältnisse vorschreiben. Seidls nüchtern distanzierter Blick auf diese Wirklichkeit ist so ehrlich wie ehrenwert: Er setzt die blinden Flecken unserer Wahrnehmung dem grellen Licht der Tropen aus.