
Der Nebenfigur des Dr. Noak kommt in «Die feinen Unterschiede» besondere Bedeutung zu. Sie erfüllt die Funktion des Buhmanns, der gleich zu Beginn des Films die Antipathien der Zuschauer auf sich zieht: Der Arzt ist schroff, überheblich und arrogant.
Info
Die feinen Unterschiede
Regie: Sylvie Michel, 80 min., Deutschland 2012;
mit: Bettina Stucky, Wolfram Koch, Leonhard Bruckmann
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Grundsympathische Putzfrau
Zweite Grundsympathin des Films ist anfangs Jana (Bettina Stucky). Die bulgarische Putzfrau und Seele der Klinik räumt nicht nur den Dreck weg, sondern ist sich auch nicht zu schade, dem grantigen Dr. Noak sein Mittagessen zu holen. Wenn der freundliche Sebastian gegen dessen Anmaßungen nicht entschieden Partei für die patente Perle ergreift, sieht sie ihm das nach.
Offizieller Filmtrailer
Arzt-Sohn reizt laissez faire aus
Der Film spielt mit Klischees und vor allem der Erfüllung klischierter Darstellungen am Erwartungs-Horizont des Kinogängers. Schnell beginnen diese Eindimensionalitäten aber durcheinanderzuwirbeln; bald kontrastieren verschiedene Ansichten von Kontrolle und Kontrollverlust miteinander.
Jana putzt auch im Haushalt des geschiedenen Sebastian. Ihre Tochter Vera (Silvia Petkova) hat sich mit dessen Sohn Arthur (Leonhard Bruckmann) angefreundet. Sebastian pflegt als Wochenend-Vater ein äußerlich entspanntes Verhältnis zu dem 16-Jährigen, der das elterliche laissez faire gern ausreizt. Manchmal versucht Papa, autoritär zu sein, weil er glaubt, es zu müssen.
Tochter ohne Handy oder Freund
Als die Kinder über Nacht wegbleiben und sich am nächsten Tag nur Arthur samt Freundin, aber keine Vera mehr einfinden, wird das Verhältnis von Sebastian und Jana arg auf die Probe gestellt. Sie hat völlig andere Vorstellungen von Erziehung und erlaubt ihrer volljährigen Tochter keine Freiheiten: weder eigenes Handy noch Freund.
Dass Regisseurin Sylvie Michel ihrem Spielfilm-Debüt den Titel eines Hauptwerks des französischen Soziologen Pierre Bourdieu gibt, ist einigermaßen frech. Dessen berühmte Studie über kulturelle Distinktions-Mechanismen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten geht natürlich weit über das hinaus, was Michel herausarbeitet.
Halbgott in Weiß
Doch der Film führt ebenso Status-Denken und sozialen Habitus vor. Sebastian versteht sich als Halbgott in Weiß, der seine wissenschaftliche Expertise auch auf alle anderen Lebens-Bereiche ganz selbstverständlich ausweitet. «Wollen Sie etwa Ihrem Arzt widersprechen?», fragt er Jana rhetorisch, als ihre Sorge um die Tochter in Hysterie umzuschlagen droht.
Diese Souveränität kann er allerdings nur gegenüber sozial schlechter gestellten Personen aufbieten. In einer TV-Talkshow zum Thema Kinderwunsch macht er keine gute Figur. Dem Vorwurf seines intellektuell überlegenen Kontrahenten, dass sich «Kontrollbedürfnis in Machbarkeitswahn verwandelt», kann Sebastian nichts entgegensetzen.
Taxi oder S-Bahn
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Rezension des Films “Die Besucher” über Eltern-Kind-Konflikte von Constanze Knoche
sowie hier eine Rezension des Films “For Ellen” über einen verantwortungslosen Vater von So Yong Kim
und hier einen Beitrag zum Familien-Drama"Was bleibt" von Hans-Christian Schmid mit Corinna Harfouch.
Die gesellschaftliche Schichtung wird leider nur recht oberflächlich illustriert: hier Oberschicht (deutscher Arzt aus Berlin-Zehlendorf, pädagogische Einstellung: «Wie viel Geld brauchst du für ein Taxi?»), dort Unterschicht (osteuropäische Reinemachefrau aus Berlin-Hellersdorf, pädagogische Einstellung: «Du kommst mit der letzten S-Bahn nach Hause!»).
Etwas zu kurz
Dem Film fehlen wohl nur zehn oder 20 Minuten mehr Laufzeit, in denen die Handlung noch hätte vertieft werden können, statt sich auf die Schnelle wieder in die Klischees zu flüchten, von denen man am Anfang denkt, dass sie später zertrümmert würden.
Trotzdem ist der Film gelungen: Er verbindet einen sachlichen Kamerastil mit der großen Spielfreude des Ensembles. Und regt immer wieder dazu an, eigene Abgrenzungs-Mechanismen zu hinterfragen.