Sylvie Michel

Die feinen Unterschiede

Jana (Bettina Stucky) überfällt Sebastian (Wolfram Koch) mit einer Hiobsbotschaft: Ihre Tochter ist verschwunden. Foto: Neue Visionen
(Kinostart: 7.3.) Ein Arzt erzieht seinen Sohn mit Taxi-Geld, seine Putzfrau verbietet ihrer Tochter das Handy. Als beide verschwinden, kommt es zum sozialen Eklat – das zeigt Sylvie Michels Debüt-Film gelungen, aber nicht frei von Klischees.

Der Nebenfigur des Dr. Noak kommt in «Die feinen Unterschiede» besondere Bedeutung zu. Sie erfüllt die Funktion des Buhmanns, der gleich zu Beginn des Films die Antipathien der Zuschauer auf sich zieht: Der Arzt ist schroff, überheblich und arrogant.

 

Info

 

Die feinen Unterschiede

 

Regie: Sylvie Michel, 80 min., Deutschland 2012;
mit: Bettina Stucky, Wolfram Koch, Leonhard Bruckmann

 

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Neben ihm kommt die Hauptperson Sebastian (sehr authentisch: Wolfram Koch) erst einmal ziemlich gut weg. Er arbeitet an derselben Klinik für Gynäkologie und ist Spezialist für In-vitro-Fertilisation. Als medizinische Entsprechung des Klapperstorchs, der Babys auch in Familien bringt, in denen es mit natürlicher Zeugung nicht so klappen will, ist Sebastian ein sympathischer Lebemann – mit einiger Unordnung im Privaten, aber darüber er verliert nicht den Spaß am Alltag. 

 

Grundsympathische Putzfrau

 

Zweite Grundsympathin des Films ist anfangs Jana (Bettina Stucky). Die bulgarische Putzfrau und Seele der Klinik räumt nicht nur den Dreck weg, sondern ist sich auch nicht zu schade, dem grantigen Dr. Noak sein Mittagessen zu holen. Wenn der freundliche Sebastian gegen dessen Anmaßungen nicht entschieden Partei für die patente Perle ergreift, sieht sie ihm das nach.

Offizieller Filmtrailer


 

Arzt-Sohn reizt laissez faire aus

 

Der Film spielt mit Klischees und vor allem der Erfüllung klischierter Darstellungen am Erwartungs-Horizont des Kinogängers. Schnell beginnen diese Eindimensionalitäten aber durcheinanderzuwirbeln; bald kontrastieren verschiedene Ansichten von Kontrolle und Kontrollverlust miteinander.

 

Jana putzt auch im Haushalt des geschiedenen Sebastian. Ihre Tochter Vera (Silvia Petkova) hat sich mit dessen Sohn Arthur (Leonhard Bruckmann) angefreundet. Sebastian pflegt als Wochenend-Vater ein äußerlich entspanntes Verhältnis zu dem 16-Jährigen, der das elterliche laissez faire gern ausreizt. Manchmal versucht Papa, autoritär zu sein, weil er glaubt, es zu müssen. 

 

Tochter ohne Handy oder Freund

 

Als die Kinder über Nacht wegbleiben und sich am nächsten Tag nur Arthur samt Freundin, aber keine Vera mehr einfinden, wird das Verhältnis von Sebastian und Jana arg auf die Probe gestellt. Sie hat völlig andere Vorstellungen von Erziehung und erlaubt ihrer volljährigen Tochter keine Freiheiten: weder eigenes Handy noch Freund.

 

Dass Regisseurin Sylvie Michel ihrem Spielfilm-Debüt den Titel eines Hauptwerks des französischen Soziologen Pierre Bourdieu gibt, ist einigermaßen frech. Dessen berühmte Studie über kulturelle Distinktions-Mechanismen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten geht natürlich weit über das hinaus, was Michel herausarbeitet. 

 

Halbgott in Weiß 

 

Doch der Film führt ebenso Status-Denken und sozialen Habitus vor. Sebastian versteht sich als Halbgott in Weiß, der seine wissenschaftliche Expertise auch auf alle anderen Lebens-Bereiche ganz selbstverständlich ausweitet. «Wollen Sie etwa Ihrem Arzt widersprechen?», fragt er Jana rhetorisch, als ihre Sorge um die Tochter in Hysterie umzuschlagen droht.

 

Diese Souveränität kann er allerdings nur gegenüber sozial schlechter gestellten Personen aufbieten. In einer TV-Talkshow zum Thema Kinderwunsch macht er keine gute Figur. Dem Vorwurf seines intellektuell überlegenen Kontrahenten, dass sich «Kontrollbedürfnis in Machbarkeitswahn verwandelt», kann Sebastian nichts entgegensetzen.

 

Taxi oder S-Bahn

 

Hintergrund

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films “Die Besucher” über Eltern-Kind-Konflikte von Constanze Knoche

 

sowie hier eine Rezension des Films “For Ellen” über einen verantwortungslosen Vater von So Yong Kim 

 

und hier einen Beitrag zum Familien-Drama"Was bleibt" von Hans-Christian Schmid mit Corinna Harfouch.

Janas Kontrollsucht gegenüber ihrem Kind ist gleichermaßen realitätsfern: Beide haben sich längst entfremdet. Die diplomierte Lehrerin muss in Deutschland putzen gehen; sie will ein Familienideal aufrechterhalten, das ihre Tochter längst abgeschüttelt hat. So schaukelt sich der präzise gedrehte Film in guten Dialogen langsam hoch, um dann vom Klimax des Eklats wieder in die Niederungen der Klischees abzustürzen.

 

Die gesellschaftliche Schichtung wird leider nur recht oberflächlich illustriert: hier Oberschicht (deutscher Arzt aus Berlin-Zehlendorf, pädagogische Einstellung: «Wie viel Geld brauchst du für ein Taxi?»), dort Unterschicht (osteuropäische Reinemachefrau aus Berlin-Hellersdorf, pädagogische Einstellung: «Du kommst mit der letzten S-Bahn nach Hause!»).

 

Etwas zu kurz

 

Dem Film fehlen wohl nur zehn oder 20 Minuten mehr Laufzeit, in denen die Handlung noch hätte vertieft werden können, statt sich auf die Schnelle wieder in die Klischees zu flüchten, von denen man am Anfang denkt, dass sie später zertrümmert würden.

 

Trotzdem ist der Film gelungen: Er verbindet einen sachlichen Kamerastil mit der großen Spielfreude des Ensembles. Und regt immer wieder dazu an, eigene Abgrenzungs-Mechanismen zu hinterfragen.