«Das Auge macht das Bild, nicht die Kamera», sagte die berühmte deutsch-französische Fotografin Gisèle Freund einmal. Sie hatte natürlich das Auge des Fotografen im Sinn: Er muss sein Bild schon im Kopf und vor seinem geistigen Okular komponieren, ehe er im richtigen Moment den Auslöser drückt.
Info
Steve McCurry - Im Fluss der Zeit: Fotografien aus Asien 1980 - 2011
19.01.2013 - 16.06.2013
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr im Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1
28.06.2013 - 29.09.2013
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr im Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Hamburg
21.02.2014 - 22.04.2014
täglich außer montags 11 bis 17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, am Wochenende bis 18 Uhr in der Kunsthalle, Fischmarkt 7, Erfurt
Sehnsüchtig nach Interpretationen
Von solch einer Aufnahme träumt jeder Fotograf: ein unvergessliches Bild zu machen. Steve McCurry ist es gelungen, weil er ein Auge hatte für diese Augen. Für diesen Blick, der sich geradezu danach sehnt, mit Interpretationen der Betrachter aufgeladen zu werden.
Es sei ihm gar nicht bewusst gewesen, so McCurry, dass dieses Mädchen sich besonders unterschieden habe von all den anderen Menschen, die er an diesem Tag Mitte der 1980er-Jahre in Afghanistan fotografiert hatte. Doch die damals 13-jährige Paschtunin Sharbat Gula landete im Juni 1985 auf der Titelseite des Magazins National Geographic:als Aufmacher für eine Reportage über den Krieg, der das Mädchen zum Flüchtling gemacht hatte.
Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert erstmalig in Deutschland nun eine kleine Retrospektive des Magnum-Fotografen mit rund 110 Abzügen, die anschließend ins Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wandert. Die Ausstellung zeigt Aufnahmen aus Afghanistan, Indien, Burma, Tibet, Kambodscha, Kuwait, China, Bangladesh und Nepal. Diese Bilder haben die Öffentlichkeit des Lebens in Asien und die unausweichliche Verbindung von Spiritualität und Profanität im Fokus. Vor allem fotografiert McCurry Menschen in einem Alltag, der kaum gegensätzlicher sein könnte zu den Lebensbedingungen im Westen.
Interview mit Steve McCurry + Impressionen der Ausstellung in Wolfsburg; © Deutsche Welle
Toter LKW-Fahrer lehnt Arm aus Fenster
Diesen Alltag haben manche Menschen nicht überlebt. McCurry war auch als Kriegsfotograf unterwegs: In einem zerschossenen Lastwagen fand er einen toten Mann; den rechten Arm so lässig aus dem Fenster gelehnt, als wollte er gleich weiterfahren. Geschundene, leblose Füße sind mit Eisenstangen aneinander gefesselt. Eine verkohlte Hand ragt aus dem Staub empor, die Finger noch Hilfe suchend nach oben gestreckt.
In Flüchtlingscamps traf McCurry auf zerrissene Familien, die nicht mehr die Kraft aufbrachten, den Augenkontakt zum Fotografen zu suchen. Kindersoldaten stehen dagegen Positur mit einer Mischung aus Stolz und Zweifel – und bis an die Zähne bewaffnet.
Ästhetische Reize bis zur Schmerzgrenze
Ein alter Schneider schwimmt durch die vom Monsun überschwemmten Straßen von Porbandar in Indien. Das einzige, was er retten konnte, bestimmt auch seine Zukunft: Auf der Schulter transportiert er eine Nähmaschine. McCurry ist zu ihm in die Fluten gestiegen. Das scheue Lächeln des Greises wirkt freundlich, aber auch verwundert darüber, warum der Amerikaner das tut.
McCurry versteht sich als Dokumentarist und Fotojournalist. Im Kunstmuseum Wolfsburg wirken seine Bilder wie die Aufnahmen eines Kunstfotografen. Markus Brüderlin, Direktor des Museums, ist das nur recht. Er sucht stets nach den Grenzlinien zwischen Kunst und Design, Handwerk und Poesie. Brüderlin lebt sein Faible für das Ornamentale und Dekorative in den Ausstellungen aus. Und McCurry versteht, die ästhetischen Reize seiner Motive herauszuarbeiten. Bis an die Schmerzgrenze.
Bis zur Hüfte im Hausteich stehen
Seine Fotos aus Indien schwelgen im Farbenrausch. McCurrys Suche nach mit Asche eingeriebenen, heiligen Männern oder mit grellen Pigmenten getünchten Feiernden ist manchmal gefährlich nah am Exotismus, doch beutet er seine Modelle nicht aus.
Selbst in absonderlichen Szenen erkennt er den kompositorischen und chromatischen Reiz. Etwa wenn ein Mädchen über ein Zaun blickt: Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sie nicht auf einem gemähten Rasen steht, sondern bis über die Hüfte in einem von Wasserlinsen bedeckten Teich steckt.
Sprechender Augenkontakt mit Kleinkindern
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Indien entdecken" mit Fotos + zeitgenössischer Kunst in der Zitadelle Spandau, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Gesichter Afghanistans" mit Fotografien von 1953 im Willy-Brandt-Haus, Berlin
und hier ein Bericht über die Ausstellung "Mythos Goldenes Dreieck" über Bergvölker in Südostasien im Ethnologischen Museum, Berlin-Dahlem.
Nach langer Recherche hat Steve McCurry sogar Sharbat Gula 17 Jahre später wieder ausfindig machen können, um sie noch einmal zu fotografieren. Die Zeit ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen, und ihr Blick ist nicht mehr ganz so eindringlich. Vielleicht hat sie inzwischen aber auch einfach nur zu viel gesehen.
Hoher Zuschlag bei Sotheby’s
Ihr Ruhm als «Mona Lisa der Fotografie» wirkt dagegen nicht nur im kollektiven Bildgedächtnis nach: Auf dem Kunstmarkt ist das «Afghanische Mädchen» ebenfalls gefragt. Anfang April wurde ein signierter Abzug der Fotografie bei Sotheby’s zum doppelten Schätzpreis zugeschlagen – für 37.500 US-Dollar. Gula selbst dürfte daran kaum partizipieren.