Olivier Assayas

Filme sollten Fragen stellen

Olivier Assayas auf der Viennale 2012. Foto: Manfred Werner/ Wikipedia
In «Die Wilde Zeit» greift Regisseur Olivier Assayas auf Jugenderlebnisse im Frankreich der frühen 1970er Jahre zurück. Ein Gespräch über Lebensgefühl und utopische Hoffnungen einer Epoche, die extrem und verrückt war, aber nie peinlich.

Geschichte der Demokratisierung vergessen

 

Haben Ihre sehr jungen Darsteller diese politisch-historischen Zusammenhänge verstanden?

 

Nicht wirklich, obwohl sie ziemlich smart sind und ihr Ding machen wollen. Wahrscheinlich empfinden sie sich als radikal. Eine Szene im Film, in der in der Druckerei diskutiert wird, was in der nächsten Ausgabe ihrer radikalen Zeitung stehen soll, drehte ich mit heutigen, jungen französischen Aktivisten.

 

Sie sollten die Dialektik der Politik der 1970er Jahre verstehen, was mich dem Wahnsinn nahe brachte – und das, obwohl sie so clever sind. Diese Generation hat die Geschichte der Demokratisierung vergessen.

 

Die alte Welt hat sich überlebt

 

Ein recht schlechtes Zeugnis für die Jugend. Was unterscheidet die Generationen?

 

Darüber denke ich häufig nach. Du kannst nicht mehr machen, als die jeweilige Epoche zulässt. Die Generation in den 1970er Jahren war nichts Besonderes, aber erschreckend wegen ihrer Energie. Die 68er-Generation waren so nah an einer Revolution, wie man nur sein kann. Sie waren kurz davor, die französische Regierung abzusetzen.

 

Ihre Bewegung schwappte um die ganze Welt. Um Politik drehte sich ihr Leben. Sie teilten die Überzeugung, dass die alte Welt sich überlebt hat. Der Mai 1968 bleibt als fehlgeschlagene Revolution in Erinnerung. Man las über die russische Revolution und den spanischen Bürgerkrieg, über Marxismus – nicht, weil man sich so sehr für Geschichte interessierte, sondern weil die Geschichte diese Zeit so beeinflusste.

 

Reformen waren Beleidigungen

 

Es ging darum, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Aus dem Interesse an der Vergangenheit entwickelte sich eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute sind sowohl das Wissen um die Vergangenheit, als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verschwunden. Und doch ist die Jugend an der heutigen Politik interessiert; das kommt zurück.

 

Aber in den 1970er Jahren war es völlig anders: Man hing Utopien an, in denen die Macht gestürzt und die Gesellschaft umgekrempelt wird. Alles darunter wurde als Reform abgetan – und Reformen waren Beleidigungen. Die heutige, sehr pragmatische Politik wurde dadurch geprägt. Das ist heute eine andere Welt mit einer vollkommen anderen Metaphysik.  

 

Zwei Antagonisten standen sich gegenüber

 

Was kann Film politisch leisten?

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die wilde Zeit" von Olivier Assayas

 

und hier einen kultiversum-Beitrag "Carlos - Der Schakal " von Olivier Assayas über linksradikalen Terrorismus der 1970er Jahre

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Wochenende" - subtiles Kammerspiel über ein Ex-RAF-Mitglied von Nina Grosse

 

und hier einen Bericht über den Film "Quellen des Lebens" von Oskar Roehler über seine Familie in den 1970er Jahren.

Ich bin Filmemacher und kein Politiker. Ich denke, Filme sollten Fragen stellen und keine Antworten suchen. Die 1970er Jahre wurden immer schlecht oder falsch dargestellt: entweder verteufelt oder idealisiert; beides ist falsch. Es ist einfach, sich über die 1970er Jahre lustig zu machen, weil sie so extrem und verrückt waren. Sie waren aber nie peinlich. Sie hinterfragten den Materialismus und den Schnitt, der durch die Gesellschaft geht.

 

Wer nur von den tollen 1970er Jahren erzählt, in der jeder politisch aktiv war, spielt die Komplexität der damaligen Politik mit ihren vielen Konflikten herunter. Die Parteien standen sich wie Antagonisten gegenüber: Einerseits eine bürgerliche Gesellschaft mit sehr steifen Wertvorstellungen, andererseits die radikale Linke, die alles verändern wollte: sexuelle Freiheit, Drogen und Rock’n’Roll. 

 

Dogmatismus als Desaster

 

Was werfen Sie der Linken vor?

 

Der Fehler der europäischen Linken war ihr Dogmatismus. Sie war zu nachsichtig mit totalitären Ideologien, insbesondere mit China und Russland. Kommunisten konfrontierten die kommunistische Partei nur sehr zurückhaltend mit Menschenrechts-Verletzungen. Derweil radikalisierten sich Teile der Linken und verkamen zu Terroristen, was viele verschreckte. Dieser Terrorismus in Europa war ein Desaster für die Linke; ein Fehler, der viele Hoffnungen begrub.