Geschichte der Demokratisierung vergessen
Haben Ihre sehr jungen Darsteller diese politisch-historischen Zusammenhänge verstanden?
Nicht wirklich, obwohl sie ziemlich smart sind und ihr Ding machen wollen. Wahrscheinlich empfinden sie sich als radikal. Eine Szene im Film, in der in der Druckerei diskutiert wird, was in der nächsten Ausgabe ihrer radikalen Zeitung stehen soll, drehte ich mit heutigen, jungen französischen Aktivisten.
Sie sollten die Dialektik der Politik der 1970er Jahre verstehen, was mich dem Wahnsinn nahe brachte – und das, obwohl sie so clever sind. Diese Generation hat die Geschichte der Demokratisierung vergessen.
Die alte Welt hat sich überlebt
Ein recht schlechtes Zeugnis für die Jugend. Was unterscheidet die Generationen?
Darüber denke ich häufig nach. Du kannst nicht mehr machen, als die jeweilige Epoche zulässt. Die Generation in den 1970er Jahren war nichts Besonderes, aber erschreckend wegen ihrer Energie. Die 68er-Generation waren so nah an einer Revolution, wie man nur sein kann. Sie waren kurz davor, die französische Regierung abzusetzen.
Ihre Bewegung schwappte um die ganze Welt. Um Politik drehte sich ihr Leben. Sie teilten die Überzeugung, dass die alte Welt sich überlebt hat. Der Mai 1968 bleibt als fehlgeschlagene Revolution in Erinnerung. Man las über die russische Revolution und den spanischen Bürgerkrieg, über Marxismus – nicht, weil man sich so sehr für Geschichte interessierte, sondern weil die Geschichte diese Zeit so beeinflusste.
Reformen waren Beleidigungen
Es ging darum, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Aus dem Interesse an der Vergangenheit entwickelte sich eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute sind sowohl das Wissen um die Vergangenheit, als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verschwunden. Und doch ist die Jugend an der heutigen Politik interessiert; das kommt zurück.
Aber in den 1970er Jahren war es völlig anders: Man hing Utopien an, in denen die Macht gestürzt und die Gesellschaft umgekrempelt wird. Alles darunter wurde als Reform abgetan – und Reformen waren Beleidigungen. Die heutige, sehr pragmatische Politik wurde dadurch geprägt. Das ist heute eine andere Welt mit einer vollkommen anderen Metaphysik.
Zwei Antagonisten standen sich gegenüber
Was kann Film politisch leisten?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die wilde Zeit" von Olivier Assayas
und hier einen kultiversum-Beitrag "Carlos - Der Schakal " von Olivier Assayas über linksradikalen Terrorismus der 1970er Jahre
und hier eine Besprechung des Films "Das Wochenende" - subtiles Kammerspiel über ein Ex-RAF-Mitglied von Nina Grosse
und hier einen Bericht über den Film "Quellen des Lebens" von Oskar Roehler über seine Familie in den 1970er Jahren.
Wer nur von den tollen 1970er Jahren erzählt, in der jeder politisch aktiv war, spielt die Komplexität der damaligen Politik mit ihren vielen Konflikten herunter. Die Parteien standen sich wie Antagonisten gegenüber: Einerseits eine bürgerliche Gesellschaft mit sehr steifen Wertvorstellungen, andererseits die radikale Linke, die alles verändern wollte: sexuelle Freiheit, Drogen und Rock’n’Roll.
Dogmatismus als Desaster
Was werfen Sie der Linken vor?
Der Fehler der europäischen Linken war ihr Dogmatismus. Sie war zu nachsichtig mit totalitären Ideologien, insbesondere mit China und Russland. Kommunisten konfrontierten die kommunistische Partei nur sehr zurückhaltend mit Menschenrechts-Verletzungen. Derweil radikalisierten sich Teile der Linken und verkamen zu Terroristen, was viele verschreckte. Dieser Terrorismus in Europa war ein Desaster für die Linke; ein Fehler, der viele Hoffnungen begrub.