Autor und Regisseur Barnaby Southcombe hat bisher vor allem Musik-Clips, Werbefilme und Fernsehserien gedreht. In seinem Spielfilm-Debüt erzählt parallel zwei Geschichten. Die erste ist ein Krimi: In einem Londoner Hochhaus wird ein Mann in seiner Wohnung erschlagen aufgefunden.
Info
I, Anna
Regie: Barnaby Southcombe, 93 min., Großbritannien/ Deutschland 2012;
mit: Charlotte Rampling, Gabriel Byrne, Eddie Marsan
Opfer als Täterin
Reid vernachlässigt darüber seine Dienst-Pflichten. Doch kleine Unstimmigkeiten in Annas Erzählungen und ein unbestechlicher Kollege bringen ihn auf die richtige Spur – die zunächst willkommene Ablenkung stellt sich als Königsweg zu einer Täterin heraus, die zugleich ein Opfer war. Charlotte Rampling vereinigt beide Pole bis zuletzt perfekt.
Offizieller Filmtrailer
Roman-Vorlage von Ex-Psychotherapeutin
Die andere Geschichte ist die einer Heilung. Eine einsame, alternde Frau sucht in einer seelenlosen Welt nach menschlicher Nähe. Sie lebt mit Tochter (Hayley Atwell) und Enkelin zusammen, doch Anna findet nach einem Leben, von dem der Zuschauer nur die Scheidung kennt, nicht aus ihrer Schockstarre.
Wachsendes Vertrauen zu einem verständnisvollen Mann nimmt bei ihr den Druck von alten Gefühlen und ermöglicht die Wiederkehr des Verdrängten. Liebe und Erinnerung spielen einander erlösend in die Hand, ein neues Leben wird denkbar. Hier wird die Roman-Vorlage von Elsa Lewin spürbar; die frühere Psychotherapeutin lebt im US-Bundesstaat New York.
Absorbierend aufflackernde Bilder
Beide Geschichten führt Regisseur Southcombe kunstvoll zusammen. Die kriminalistische Aufklärung umkreist aus respektvoller Distanz das zentrale psychische Geschehen mit immer wieder aufflackernden, absorbierenden Bildern: Tanz und Autofahrt mit dem Ermordeten, Drinks in seiner Wohnung, Zudringlichkeiten, Flucht ins Badezimmer und Rückkehr in seine fordernden Arme.
Hintergrund
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Gegen sozialen Erfrierungstod anspielen
Dabei stehen Londons Kälte, Fremdheit und latente Gewalttätigkeit ganz in der Tradition des Film Noir. Das Design von Schauplätzen, Möbeln und Kostümen erinnert stark an die 1970er, teilweise sogar an die 1940er Jahre. Die ausgeblichene Farbpalette reicht von Beige und Braun bis zu Grau und Dunkelblau, so dass Annas rotes Kleid geradezu ins Auge springt.
Das immer präsente Unglück der Protagonisten, als sei es eine Neuinszenierung von Claude Sautets Krimi-Klassiker «Das Mädchen und der Kommissar» von 1971 mit Romy Schneider und Michel Piccoli, wirkt wie eine natürliche Konsequenz dieser abweisenden Welt für die Individuen. Als Hauptfiguren spielen Charlotte Rampling und Gabriel Byrne tapfer gegen den sozialen Erfrierungstod an.
Jeder ist ein Abgrund
Wer an den therapeutischen Wert von Psychoanalyse glaubt oder an die Erlösung durch Liebe, wer Geborgenheit bei Menschen und nicht in ihrer Umwelt sucht, ist mit diesem Film bestens bedient. Wer schlüssige Motivations-Ketten oder lebenswerte Städte braucht, deutlich weniger.
Sehenswert aber sind in jedem Fall die Gesten, die Gesichter und Blicke. Frei nach Büchners Woyzeck: Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht. Auch wenn man sich manchmal doch noch an seinen Rändern festhalten kann.