Leipzig

Minkisi – Skulpturen vom unteren Kongo

Nkisi Bole N`Kule: Stilisierte zoomorphe Figur mit zahlreichen Eisenstücken und Anhängseln. Foto: E.Schwerin / Quelle: Grassi Museum Leipzig
Mit Nägeln gespickte Figuren helfen in allen Lebenslagen: Sie zählen zu den eindrucksvollsten Werken afrikanischer Kulturen. Das Grassi Museum stellt seine bedeutende Sammlung erstmals öffentlich aus – und rehabilitiert den Fetischismus.

Fetischismus genießt keinen guten Ruf. Wer Fetisch-Objekten verfallen ist, gilt als leicht gestört und nicht ganz zurechnungsfähig. Das muss nicht sein: Im Leipziger Grassi darf man derzeit ungehemmt dem Fetischismus huldigen.

 

Info

Minkisi – Skulpturen vom unteren Kongo

 

07.12.2012 - 02.06.2013

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

im Grassi Museum für Völkerkunde, Johannisplatz 5-11, Leipzig

 

Katalog 29,80 €

 

Weitere Informationen

Im Museum für angewandte Kunst einer besonders bei Frauen beliebten Variante: Es zeigt rund 100 überdesignte Schuh-Kreationen. Im Museum für Völkerkunde dagegen einer altehrwürdigen Spielart: Zu sehen sind mehr als 100 Fetisch-Skulpturen aus dem Kongo.

 

Nötiges Hintergrundwissen

 

In der Kikongo-Sprache heißen solche Skulpturen minkisi, im Singular nkisi. Das Museum besitzt eine der größten Sammlungen historischer minkisi weltweit; nun wird sie erstmals umfassend ausgestellt. Klugerweise eingebettet in eine Überblicks-Schau über Geschichte und Kultur der Region; ohne solches Hintergrundwissen blieben die minkisi unverständlich.


Impressionen der Ausstellung


 

Herrscher-Palast mit 250 Häusern

 

Die Figuren stammen aus dem früheren Reich von Loango; es lag an der Atlantikküste auf dem Gebiet der heutigen Republik Kongo. Das Reich war straff organisiert und durch seine Küstenlage vergleichsweise wohlhabend; über sein Territorium lief sämtlicher Handel mit dem Binnenland. Die Hauptstadt Buali zählte etwa 15.000 Einwohner. Dort residierte der Herrscher in einem Palast mit 250 größeren und kleineren Häusern.

 

Schon im 15. Jahrhundert hatte Loango ersten Kontakt zu europäischen Seefahrern. Ende des 16. Jahrhunderts begann regelmäßiger Handel: Europäer tauschten Stoffe, Metallwaren, Glas und Spiegel gegen Elfenbein, Edelhölzer und Sklaven ein. Die fremden Flotten konkurrierten gegeneinander, woraus Loango Vorteile zog: Einheimische Zwischenhändler etablierten sich, die vermögend und einflussreich wurden.

 

Vor dem Begräbnis zur Stoff-Tonne gewickelt

 

Darüber gibt es historische Reiseberichte mit Illustrationen, die in Faksimile präsentiert werden. Sie zeigen anschaulich, wie entwickelt und zugleich fremdartig das Leben in Loango war; beispielsweise das Begräbnis des reichen Zwischenhändlers Andris Poucouta 1787. Sein Leichnam wurde in unzählige Bahnen von Raphia – ein teurer Stoff aus Palmblatt-Fasern – eingewickelt, bis er rund wie eine Tonne war; die zogen dann etliche Bediensteten auf einem Wagen zum Grab.

 

Ende des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Mächte Afrika untereinander aufteilten, war das Reich von Loango bereits zerfallen. Doch seine Kultur blieb lebendig. Der Deutsche Robert Visser, der dort 22 Jahre lebte, konnte Hunderte von minkisi sammeln und ins Reich schicken; auch das Leipziger Museum verdankte ihm den größten Teil seiner Bestände.

 

Materieller Behälter für übernatürliche Kräfte

 

Visser notierte allenfalls den Namen und kurze Funktions-Beschreibungen der Stücke. Seine Zeitgenossen taten zudem alles, um das Wissen über sie ganz auszulöschen. Christliche Missionare ließen Tausende von minkisi als «primitive Götzenbilder» verbrennen. Andere wurden von den kolonialen Behörden beschlagnahmt. So ist vieles an ihnen heute rätselhaft.

 

Nur in groben Zügen ist bekannt, was sie waren und wozu sie dienten. Ein nkisi ist ein materieller Behälter für übernatürliche Kräfte; daher werden die minkisi «Kraftfiguren» genannt. Als  Behälter können alle möglichen Dinge dienen; etwa ein Horn, ein Beutel aus Stoff oder Fell, ein Schnurgeflecht. Auch solche minkisi sind zu sehen.

 

Kraft-Substanzen von Blättern bis Affen-Knochen

 

Eindrucksvoller sind Figuren aus Holz; manchmal in Tier-, meist in Menschengestalt und allen Größen von wenigen Zentimetern bis zu mehr als einem Meter. Entscheidend sind so genannte Kraft-Substanzen, mit denen Vertiefungen und Aufsätze gefüllt werden oder die Figur behängt wird: Sie verkörpern die gewünschte Kraft oder locken sie herbei.

 

Welche Substanzen – von zermahlenen Blättern bis zu Affen-Knochen – und Rituale dafür nötig sind, weiß der nganga. Er «weiht» gleichsam die Figur, deren Wirkungsmacht an seine Person gebunden ist: Stirbt der nganga, wird sein nkisi wertlos. Dessen Kraft kann bereits vorher schwinden; dann muss sie erneuert werden, oder die Figur wird weggeworfen.

 

Mit Nachtgewehren auf Hexen-Jagd

 

Für jedes menschliche Problem ist ein bestimmter nkisi zuständig. Alle Schmerzen und Krankheiten, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft, Schutz vor Bedrohungen und Garantien für Vereinbarungen aller Art – in jedem Fall ist es günstig, die Hilfe des darauf spezialisierten nkisi in Anspruch zu nehmen.

 

Daher tragen zahlreiche minkisi eigene Namen als Repräsentanten des jeweiligen Typs. Welche Attribute und Kraft-Substanzen dazu gehören, ist meist unbekannt. Mit wenigen Ausnahmen: Manche Figuren tragen Röhrchen, die mit Schieß- und anderem Pulver gefüllt sind. Mit diesen «Nachtgewehren» sollen sie Jagd auf Hexen machen.

 

Nägel-Einschläge setzen Kräfte frei

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Vodou - Kunst und Kult aus Haiti" im Übersee-Museum, Bremen

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Afrikanische Bronzen" - Metallguss-Arbeiten aus der Sammlung Paul Garn in der Galerie Peter Herrmann, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dogon - Weltkulturerbe aus Afrika" in der Bundeskunsthalle, Bonn

Große minkisi sind vom Jäger-Typ nkondi (Plural: minkondi): In wehrhafter Stellung, oft mit erhobenem Speer, schützen solche Skulpturen vor Angreifern und Gefahren. Damit ihre Wirkung optimal zur Geltung kommt, werden sie mit Nägeln und Metall-Klingen gespickt. Jeder Einschlag setzt einen Teil der Kraft frei, die der Figur innewohnt; oft sind sie davon übersät.

 

Diese zuweilen auch «Nagelfetische» genannten minkondi zählen zu den beeindruckendsten Werken der traditionellen afrikanischen Kunst. Die Nägel sind keine Male der Zerstörung, sondern im Gegenteil unerlässliche Bestandteile dieser Skulpturen, die ihre Funktion erst ermöglichen. Und ihnen zugleich ein faszinierendes Aussehen verleihen, dem in Europas Kultur nichts gleichkommt.

 

Besser Figur- als Schuh-Fetischismus

 

Minkondi haben eine eigentümliche Aura und Ausstrahlung, die jeden Betrachter zweifeln lässt, ob ihre magische Kraft wirklich erloschen ist. Das lässt sich in dieser wunderbaren Ausstellung hervorragend erfahren. Womit sie auch den Fetischismus rehabilitiert: Diese afrikanische Ausprägung erscheint allemal sinnvoller als die Sucht nach ausgefallenen Schuhen.