Düsseldorf

Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien

Paulo Nazareth: Fotografie aus der Serie: Noticias de America, 2011 – 2012,30 x 40 cm,Courtesy: Mendes Wood DM, São Paulo.Foto: Ivo Faber/ Quelle: KIT – Kunst im Tunnel.
Gibt es eine spezifisch brasilianische Moderne? Vor 50 Jahren sehr wohl in der Bewegung des "Neoconcretismo". Doch davon ist wenig übrig geblieben, wie diese Ausstellung mit aktuellen Beiträgen von acht Teilnehmern in "Kunst im Tunnel" zeigt.

Das Beste kommt zum Schluss. Am Nord-Ende der unterirdischen Röhre, in der „Kunst im Tunnel“ angesiedelt ist, treffen ihre Betonwände im spitzen Winkel aufeinander. Wie über einen dunklen Dachboden geht der Besucher auf eine Video-Projektion zu.

 

Info

Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien

 

15.06.2013 - 08.09.2013

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr

im KIT - Kunst im Tunnel, Mannesmannufer 1b, Düsseldorf

 

Weitere Informationen

Sie zeigt die Glocke „Dobre Festivo“ („Festliches Läuten“), die in einer Kleinstadt-Kirche in der brasilianischen Region Minas Gerais frei aufgehängt ist. Daran ziehen junge Männer und schaukeln sie hoch, bis die Glocke soviel Schwung hat, dass sie überschlägt. Das Bronze-Ungetüm kreist unaufhörlich und läutet ohrenbetäubend: ein markerschütternder Wirbel aus Tönen, Farben und Bewegung.

 

Glocken läuten wie Fußball spielen

 

Hier stimmt einfach alles: Das Medium passt zum Motiv, beide an diese Stelle in der Ausstellung und zu ihrem Motto, „Junge Kunst aus Brasilien“ zu zeigen. Religiöse Feste als Spektakel, die alle Sinne überwältigen, und halbwüchsige Glöckner, die so hingebungsvoll athletisch und geschickt agieren wie beim Vorführen ihrer besten Fußball-Tricks, in einer ausgeklügelt melodramatischen Inszenierung – all das ist sehr brasilianisch.


Impressionen der Ausstellung


 

Bitte keine Brasilien-Klischees

 

Dabei kommt die Installation „Bronze Revirado“ („Aufgerichtete Bronze“) von Pablo Robato völlig ohne Brasilien-Klischees wie Samba, Copacabana und Caipirinha aus. Die sind nämlich den acht teilnehmenden Künstlern ein Graus.

 

In Katalog-Interviews geben sie an, ihre Arbeiten seien vielleicht irgendwie brasilianisch geprägt, aber sie wollten keinesfalls spezifisch brasilianische Kunst machen. So sehen ihre Werke auch aus: Die meisten könnten überall auf der Welt entstanden sein. Oder der Bezug zu Brasilien ist so versteckt, das er nur mit reichlich Vorwissen bemerkbar wird.

 

Fortschritt im Land der Zukunft

 

Etwa in „Progresso“ („Fortschritt“) von Maurício Ianês: Er streute dieses Wort in Pulverform auf den Boden, ließ Leute darüber laufen, fotografierte das vielfach und pflasterte damit eine Wand. „Fortschritt“ ist ein Schlüsselbegriff der brasilianischen Republik: Die Nationalflagge schmückt ein Banner mit den Worten „ordem e progresso“ („Ordnung und Fortschritt“).

 

Dieser Kontext verleiht Ianês‘ Aufnahmen einen politischen Hintersinn: Alltägliches Handeln macht gesellschaftlichen Fortschritt unkenntlich. Das verwundert nicht in diesem ewigen Schwellenland, dem Stefan Zweig einst bescheinigte, es sei „das Land der Zukunft“ – was Zyniker anmerken lässt: „Brasilien ist das Land der Zukunft und wird es immer bleiben.“

 

Recycling alter Wahlplakate

 

Vor einem halben Jahrhundert war mehr Optimismus. Ende der 1950er Jahre wollte Präsident Juscelino Kubitschek seine Nation mit Großprojekten wie der neuen Hauptstadt Brasilia in die Moderne katapultieren. Daran erinnert „E agora, José?“ („Was nun, José?“) von Marcelo Cidade: Eine Stellwand besteht rückseitig aus Fragmenten alter Wahlplakate jener Epoche. Die Vorderseite ist jedoch monochrom grau.

 

Damals gab es eine Kunst-Szene, die sich als dezidiert brasilianisch und zugleich radikal zeitgenössisch verstand. Emigranten aus Europa wie der Schweizer Max Bill hatten junge Brasilianer mit konkreter Kunst vertraut gemacht. Sie versetzten den strengen Formenkanon der Konstruktivisten spielerisch in Schwingung – der „Neoconcretismo“ war geboren.

 

Klavier mit Wachs verstummen lassen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Cut & Mix" mit zeitgenössischer Kunst aus Peru + Chile in der ifa-Galerie, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Verlangen nach Form" über Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien in der Akademie der Künste, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Realidad y Utopia" über "Argentiniens künstlerischen Weg in die Gegenwart", ebenfalls in der Akademie der Künste.

 

Von dessen Erbe ist wenig zu sehen. Mit Glassplittern gespickte Wand-Rahmen von Cidades sollen an gated communities gemahnen; doch stark gesicherte Wohnviertel für Reiche gibt es weltweit. Tatiana Blass will mit einem Film „das Schweigen materialisieren“. Dazu kippt sie Wachs und Vaseline in einen Konzertflügel, so dass der Pianist nicht mehr weiterspielen kann: much ado about almost nothing.

 

Paulo Nazareth zeigt Fotos und Videos von seinen Aktivisten-Wanderungen durch ganz Amerika – so beliebig wie ein Ferien-Album. Und 60 Text-Bild-Tafeln von Jonathas de Andrade wirken willkürlich, wenn man nicht weiß, dass sie vom Pädagogen Paulo Freire erstellt wurden, um Analphabeten zu schulen.

 

Kaum Einblicke in Gegenwarts-Kultur

 

Diese Zusammenstellung vermittelt Landeskennern nichts Neues und Laien kaum Einblicke in die dortige Gegenwarts-Kultur – was man von einer Präsentation „junger Kunst aus Brasilien“ erwarten würde.

 

Natürlich gibt es in der globalisierten Welt keine abgeschotteten Nationalkulturen mehr. Doch überall Künstler, die sich bewusst auf heimische Themen und Traditionen beziehen. Ohne abgegriffene Klischees zu bemühen: wie die rotierende Kirchenglocke von Pablo Robato