Linus de Paoli

Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln

Dr. Ketel (Ketel Weber) bei der Arbeit. Foto:dffb/schattenkante
(Kinostart: 22.8.) Geburt des Medizin-Thrillers aus dem Geist bankrotter Sozial-Systeme: Untergrund-Doktor Ketel behandelt gratis und klaut dafür Arznei. In seinem Regiedebüt kombiniert Linus de Paoli Genre-Elemente zu einer messerscharfen Dystopie.

„Ich bin Arzt“ – das ist ein Satz, der Vertrauen und Hoffnung weckt. Immer wieder kommen Leute in die Schlagzeilen, die sich ohne entsprechende Ausbildung erfolgreich als Arzt ausgaben, Patienten behandelten und sogar operierten.

 

Info

 

Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln

 

Regie: Linus de Paoli,

80 Min., Deutschland 2011;

mit: Ketel Weber, Amanda Plummer, Franziska Rummel

 

Weitere Informationen

 

Ketel (Ketel Weber), der seltsame Held dieses Films, ist einer dieser Leute. Aber er ist kein Hochstapler à la Felix Krull, der es auf den Status abgesehen hat. Sondern eher ein Robin Hood, der jenen hilft, die sich in der „nahen Zukunft“, in der dieser Film spielt, keine medizinische Versorgung leisten können.

 

Kein Geld für Medizin in Neukölln

 

Diese Zukunft inszeniert Regisseur Linus de Paoli als Hochschul-Abschlussfilm in Berlin-Neukölln, einer Großstadt für sich mit rund 300.000 Einwohnern. Dort hat dem Anschein nach kaum noch jemand genug Geld für medizinische Betreuung.


Offizieller Filmtrailer


 

Tagsüber Hausmeister, nachts Notarzt

 

Ketel behandelt Junkies, Obdachlose, Migrantenkinder, einsame Alte und bedröhnte Skater. Bis zur Erschöpfung hetzt er nachts mit seiner schwarzen Arzttasche von Einsatz zu Einsatz. Tagsüber verdingt er sich als Hausmeister, Medikamente stiehlt er aus Apotheken. Er hat eine Romanze mit der Apothekerin Karo (Franziska Rummel), die kurz ausfällt, aber später äußerst wichtig wird.

 

Als Drehbuch-Autoren erzählen Linus und Anna de Paoli eine klare, dichte Geschichte, die Elemente des Sozialdramas, Thrillers, Horror- bzw. Mystery-Films und des etwas anderen Kiez-Films ökonomisch und geschickt verbindet. Mit wenigen Handstrichen entwerfen sie eine Sozial-Dystopie, die jeder sofort versteht: Es wird alles noch schlimmer mit der Armut. Dabei werden kein Zentimeter Film und kein Cent des Budgets von 20.000 Euro vergeudet.

 

Immer noch nach Berlin-Tegel fliegen

 

Die schwarz-weiß gefilmten Seitenstraßen der Karl-Marx-Straße erinnern eher an das Neukölln der 1980er Jahre als an das sonnige Hipster-Paradies der Gegenwart. Wer aus diesem Film erfahren will, was Neuköllner Kreative in der nächsten Saison am Leib tragen, wird enttäuscht. Vermutlich sind sie in der in der Logik des Films nach Krakau umgezogen.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier einen Bericht über den Essay-Film "Global Viral - Die Virus-Metapher" von Madeleine Dewald + Oliver Lammert über die Allgegenwart von Viren

 

und hier eine Besprechung des Films “Halt auf freier Strecke” von Andreas Dresen über den Todeskampf eines Krebs-Kranken

 

und hier einen Beitrag über den Katastrophen-Film “Contagion” von Steven Soderbergh über eine weltweite Killer-Epidemie.

 

Auch die im Science-Fiction-Genre obligatorischen Insignien und technischen Innovationen sucht man vergebens; die finden andernorts statt. Köstliche, wenn auch unfreiwillige Pointe: Flugzeuge steuern immer noch den Flughafen Berlin-Tegel an.

 

Plummer bringt Film über Ziellinie

 

Dort landet, als die Handlung gerade ihre düsterste Wendung nimmt, die Security-Fachfrau Louise (Amanda Plummer). Sie schickt ihren auf sie wartenden Fahrer samt Limousine weg und nimmt sich eine Rikscha. Ihr Auftritt kommt genau zur richtigen Zeit.

 

Die US-Schauspielerin, die Extreme gewohnt ist („Butterfly Kiss“ „Pulp Fiction“), gibt dem Ensemble und der Story genau die Energie, die sie brauchen, um dieses kleine low budget-Meisterwerk über die Ziellinie zu bringen.

 

Prächtig feiern oder einsam sterben

 

Über den Fortgang der Geschichte sei nicht zuviel verraten. Das Ende kommt zwar nicht überraschend, wartet aber mit einer lange im Ärmel gehaltenen Moral auf, die sich vor allem – aber nicht nur – an junge Leute richtet. Also durchaus auch an Bewohner jener Straßen, in denen es sich gerade prächtig feiern lässt – oder auch einsam sterben.