Es gibt Momente im Kino, wo man als Frau unglaublich froh ist, in der Gegenwart zu leben. Etwa bei dieser Verfilmung einer Erzählung des irischen Autors George Moore: „Albert Nobbs“ wurde 1918 veröffentlicht, spielt aber in Dublin Ende des 19. Jahrhunderts.
Info
Albert Nobbs
Regie: Rodrigo García
109 Min., USA 2011
mit: Glenn Close, Mia Wasikowska, Janet McTeer
Bessere Jobs nur für Männer
Niemand ahnt, dass Albert eigentlich eine Frau ist, die ihren Lebensunterhalt gezwungenermaßen in Männerkleidung verdient. Die Zeiten sind hart, und für Männer gibt es eher eine gute Anstellung. Diese Frau bliebe Albert bis an ihr Lebensende, wenn nicht Anstreicher Hubert Page (großartig: Janet McTeer) eines Tages das Zimmer mit ihm teilen müsste.
Offizieller Filmtrailer
Tabakladen als Ziel für Nichtraucher
Der Maler entpuppt sich bald selbst als Frau in Männerkleidung, was Albert ungeahnte Perspektiven eröffnet. Die Entdeckung, nicht allein in dieser Lage zu sein, bringt völlig neue Impulse in sein Dasein. Bisher war sein größtes Ziel ein eigenes Tabakgeschäft, für das er seinen ganzen Lohn spart – obwohl Albert gar nicht raucht.
Hubert ist aber nicht nur sein eigener Herr; er führt ein normales Leben und hat sogar eine Ehefrau. Und als im Hotel das neue Dienstmädchen Helen (Mia Wasikowska) auftaucht, glaubt Albert, endlich auch die Richtige zum Heiraten und als Partnerin für seinen ersehnten Laden gefunden zu haben.
Nobelpreisträger-Sohn führt Regie
Schon vor 30 Jahren hat Hauptdarstellerin Glenn Close diese Rolle gespielt; zunächst auf der Bühne. Später wollte sie mehrfach den Stoff auf die Leinwand bringen, was ihr nun geglückt ist. Zunächst sollte István Szabó Regie führen, doch von ihm stammt nur die Bearbeitung der Originalstory. Die hat Regisseur Rodrigo García, der Sohn von Literatur-Nobelpreisträger Gabriel García Marquez, leicht behäbig umgesetzt.
Darüber lassen aber setting und Schauspielerensemble die meiste Zeit hinwegsehen. Stimmig bis ins kleinste Detail ersteht das mondäne 19. Jahrhundert mit Kristalllüstern und Samtbezügen neu. Man fühlt sich etwas an die Filme von James Ivory wie „Zimmer mit Aussicht“ (1985) oder „Wiedersehen in Howards End“ (1991) erinnert.
Entweder reiche Witwe oder crossdresser
Das Augenmerk des Regisseurs gilt den Dienstboten und Albert Nobbs‘ plötzlichem Aufleben. García schaut hinter die schöne Fassade von Hotel und Gästen; dabei verwendet er viel Zeit zur Figurenzeichnung, auch der Nebenrollen. Daneben wird aber auch die prekäre Situation alleinstehender Frauen in dieser Zeit deutlich: Sie genießen höchstens als reiche Witwe wie Hotel-Direktorin Mrs. Baker (Pauline Collins) einiges Ansehen.
Hintergrund
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Altes, unbeholfenes Straßen-Kind
So endet Alberts Versuch, sich nach Jahrzehnten wieder einmal in Frauenkleider zu zwängen, auch am Boden: Der lange Rock hindert ihn am Laufen, und er sieht sehr verkleidet aus. Die Frau in dieser Person ist verschwunden – wie der eigenständige Mensch, nachdem er zeit seines Lebens Anderen zu Diensten war.
Close spielt Nobbs als alt gewordenes Kind, das seine Umgebung durch seinen neuen Freund Hubert erst wieder wahrzunehmen lernt. Im Hotel kennt er alles und jeden, noch die kleinste Geste sitzt. Auf der Straße ist er unbeholfen und verstört: Dass das nicht gut ausgehen kann, versteht sich von selbst.
Trauer um nicht gelebtes Leben
Regisseur García widersteht der Versuchung, die Geschichte als tränenreiches Melodram zu inszenieren; dennoch lässt sie nicht kalt. Allerdings überträgt sich die leblose Starre im Antlitz von Glenn Close zusehends auf den gesamten Film. Diese steife, an Konventionen klebende viktorianische Gesellschaft, in der die Form zu wahren alles ist, macht frösteln: wie die Trauer um Alberts nicht gelebtes Leben.