Alain Guiraudie

Der Fremde am See

Michel (Christophe Paou) und Franck (Pierre Deladonchamps) fühlen sich zueinander hingezogen. Foto: Alamode Film
(Kinostart 19.9.) Schwule Seelennöte: Badegast Franck bändelt mit Michel an, obwohl er weiß, dass der ein Mörder ist. Regisseur Guiraudie inszeniert seine trügerische Sommer-Idylle als Kammerspiel mit einer Dichte, die man im Kino selten sieht.

Die Sonne scheint freundlich auf den kleinen See, an dem sich ausschließlich Männer aalen. Die meisten sind nackt, gut durchtrainiert und attraktiv. Mann taxiert sich, lernt sich kennen oder verschwindet miteinander im Gebüsch rund um den See, dem örtlichen cruising-Revier.

 

Info

Der Fremde am See

 

Regie: Alain Guiraudie

97 Min., Frankreich 2013

mit: Pierre Deladonchamps, Christophe Paou, Patrick D´Assumcao

 

Website zum Film

 

Das alles geschieht unaufgeregt, fast beiläufig. Franck (Pierre de Ladonchamps) ist zum ersten Mal in den Ferien hier, kennt aber einige Stammgäste, denn die Schwulenszene der Gegend ist nicht groß. Auf einem seiner Streifzüge lernt er den älteren Henri (Patrick D´Assumçao) kennen. Der will nur die Ruhe am See genießen.

 

Platonische Homo-Hetero-Freundschaft

 

Beleibt und frisch geschieden, passt der Hetero ohnehin nicht in die Landschaft; beide Männer plaudern aber angeregt und entwickeln eine Art platonischer Freundschaft. Francks sexuelles Interesse gilt Michel (Christophe Paou), der auch öfter am See zu treffen ist; leider nie ohne seinen eifersüchtigen Freund.


Offizieller Film-Trailer


 

Kreuzung aus Tom Selleck + Freddie Mercury

 

Michel sieht aus wie ein perfekter schwule Posterboy: eine Kreuzung aus Tom Selleck und „Queen“-Sänger Freddie Mercury. Als Franck eines Abends länger als gewöhnlich bleibt, um den Sonnenuntergang zu bewundern, wird er Zeuge eines Mordes; der bringt nicht nur die geruhsame See-Idylle, sondern auch sein Seelenleben durcheinander.

 

Regisseur Alain Guiraudies siedelt seinen Thriller im homosexuellen Milieu an, das er ungeschönt und ausführlich zeigt. „Der Fremde am See“ beginnt zunächst wie eine Studie zu schwulem Balz- und Sexualverhalten: Ausgiebig zeigt er, wie sich die Männer am Strand und im nahe gelegenen Wäldchen beobachten und selbst präsentieren.

 

Wenn der Ex für immer baden geht

 

Das ist roh und unverblümt, aber nie voyeuristisch, auch nicht in den expliziten Sex-Szenen; die gehören eben dazu. Trotzdem wahrt der Film genügend Distanz, um die Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren, die mit dem Mord erst wirklich anfängt.

 

Michel hat seinen aktuellen Lover ertränkt. Obwohl Franck das weiß, beginnt er gleich am nächsten Tag eine Affäre mit ihm, die schnell sehr intensiv wird. Henri als fernem Beobachter ist das nicht geheuer. Dann erscheint ein Polizeikommissar, der nicht nur zum Mordfall unangenehme Fragen stellt.

 

Mord-Bedrohung als eigentlicher Kick

 

Hintergrund

 

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und hier einen Bericht über den Film “Parada” - originelle serbische Schwulen-Komödie von Srdan Dragojević

 

und hier eine Rezension des Films “Paulista– Geschichten aus São Paulo” - metrosexuelle Liebes-Dramen von Roberto Moreira

 

Nicht nur die physische Attraktivität macht Michel begehrenswert: Die unterschwellige Bedrohung, die von ihm ausgeht, gibt Franck den eigentlichen Kick. Seine Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die ihm Michel für eine Weile zu geben verspricht, lässt Franck mehr riskieren, als gut für ihn wäre.

 

Obwohl sich die gesamte Handlung im Freien abspielt, wirkt der Film wie ein Kammerspiel. Der Schauplatz wechselt nie; nur die Perspektiven bilden statisch, bewegt oder subjektiv das Geschehen ab. Auch wenn einige dramaturgische Wendungen unnötig sind, gelingt dem Film eine im Kino selten gewordene Dichte, indem er sich auf einen Ort mit Originalton und natürlichem Licht konzentriert.

 

Großes Kino ohne Schnörkel

 

Details wie wandernde Schatten oder das täglich wiederkehrende Parken der Autos auf dem Parkplatz deuten die vergehende Zeit an. Nervenkitzel entsteht durch Gesten, Blicke oder Ungesagtes. Zudem weiß Regisseur Guiraudie als Ex-Dokumentarfilmer, wie man ohne Musik Spannung erzeugt. So verströmt das Ergebnis etwas zeitlos Märchenhaftes: Großes Kino ohne Schnörkel, das noch eine Weile nachwirkt.