Cesar Oiticica Filho

Hélio Oiticica

Der brasilianische Künstler Hélio Oiticica vor Tänzern mit den von ihm erfundenen Parangolés. Foto: Arsenal Distribution
(Kinostart: 3.10.) Der spannendste Künstlerfilm des Jahres: Hélio Oiticica war der "Andy Warhol Brasiliens", nur viel lässiger und lebenslustiger. Diese Hommage ist eine Archiv-Achterbahnfahrt, brillant geschnitten und vertont – eine echte Entdeckung.

Der aufregendste Künstlerfilm des Jahres porträtiert einen metrosexuellen Brasilianer, der ständig herumexperimentierte, zwei Mal in London und einmal in New York ausstellte, tanzte und kokste, bis er 1980 mit nur 42 Jahren an einem Schlaganfall starb. Klingt nach einer schrägen Randexistenz. Doch Hélio Oiticica war eine Zentralgestalt der brasilianischen Moderne.

 

Info

 

Hélio Oiticica (2012)

 

Regie: Cesar Oiticica Filho,

94 Min., Brasilien 2012,

mit: Estelle Hebron Jones, Carmen Menendez, Camila Mota

 

Weitere Informationen + Kinoliste

 

Als er Mitte der 1950er Jahre sein Kunststudium beendete, ließ Präsident Kubitschek gerade die Infrastruktur ausbauen und die neue Hauptstadt Brasilia errichten. Solche Aufbruchstimmung machte kreativ: Der Bossa Nova entstand und stürmte weltweit die Hitlisten. Und junge Künstler nabelten sich von europäischen Vorbildern ab.

 

Rechtecke schweben im Raum

 

Etwa die Gruppe des „Néoconcretismo“: Sie brachte die strenge Geometrie der „Konkreten Kunst“, die Europäer an brasilianischen Hochschulen lehrten, zum Tanzen. Hélio Oiticica war einer ihrer führenden Protagonisten. Er hängte Gebilde aus Rechtecken auf, die wie riesige Mobiles frei im Raum schwebten.


Offizieller Filmtrailer, englisch untertitelt


 

Ausstellungs-Objekt als Liebesnest

 

Dabei verlegte er sich bald auf eine Farbpalette aus warmen Gelb-, Orange- und Rottönen. In den 1960er Jahren konstruierte er verschachtelte Skulpturen mit Klappen und Türen, die vom Betrachter geöffnet und erkundet werden sollten.

 

Später vergrößerte er sie zu „Penetráveis“; interaktiven Installationen, die begeh- und benutzbar waren. Für alle möglichen Zwecke: Zwei Besucher einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art 1970 gebrauchten ein Oiticica-Object als Liebesnest. Der Künstler hatte nichts dagegen. Er wollte „Vorschläge für nicht-ritualisierte Situationen“ machen, an denen jeder nach Belieben teilhaben konnte.

 

Oiticica-Schau begründet Tropicália-Bewegung

 

Dieser radikaldemokratische Ansatz sprang auf Brasiliens Musik über. Nach Oiticicas Ausstellung „Tropicália“ in Rio de Janeiro 1967 betitelten Stars wie Caetano Veloso, Gilberto Gil und andere ihr erstes Album: als Manifest für eine androgyn-karnevaleske Bewegung gegen die herrschende Militärdiktatur.

 

Oiticica zählte zu dieser kulturellen Regenbogen-Koalition. Er war in einer Samba-Schule aktiv und entwarf „Parangolés“: bizarre Umhänge aus mehreren Bahnen bunter Tücher, in denen Körper und Kostüme zu sich bewegenden Skulpturen verschmelzen sollten.

 

Groteske Kokser-Kunst

 

Nach 1970 griff er jedoch immer öfter zu weißem Pulver; seine Arbeiten wurden zusehends grotesk. Etwa „Cosmococa“, dessen Name für sich selbst spricht, oder „CC6 Coke Head’s Soup“: Auf einer Plattenhülle zog er mit Kokain Linien, deren Verteilung und Verschwinden er als Foto-Sequenz fixierte. Da kreiste eine Koksnase nur noch um ihren Stoff.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Hélio Oiticica: Das große Labyrinth" - erste deutsche Retrospektive im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien" - im KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf

 

und hier eine Rezension der Ausstellung “Das Verlangen nach Form” über Neoconcretismo + zeitgenössische Kunst aus Brasilien mit Werken von Hélio Oiticica in der Akademie der Künste, Berlin.

 

Dieser risikofreudige Grenzgänger, der manchmal „Brasiliens Andy Warhol“ genannt wird, hielt viele Momente seiner schlingernden Künstler-Karriere visuell fest. Ein Bilderschatz, den nun sein Neffe Cesar Oiticica Filho gehoben hat. Er montiert aus unzähligen Fotos, Skizzen und Super-8-Streifen eine so informative wie liebevolle Hommage an seinen Onkel. Ohne Kommentar: Auf der Tonspur spricht nur Hélio Oiticica über sein Leben und Werk.

 

Präzise Deckung von Bild + Ton

 

Dafür zieht der Regisseur optisch alle Register: Dieses Feuerwerk aus Archivmaterial, verkratzt flackernden Amateur-Aufnahmen und ruhigen Kamerafahrten durch Installationen des Künstlers ist so präzise geschnitten, dass Bild und Ton stets zur Deckung kommen. Man sieht genau, wovon Oiticica redet.

 

Und erlebt mit, was ihn faszinierte und inspirierte: das pulsierende Treiben auf Rios Straßen voller schillernder Paradiesvögel und sexueller Energie, die labyrinthische Zufalls-Architektur in den favelas, die überschäumende Lebensfreude der Samba-Tänzer und coole Verweigerungshaltung im underground von London und New York.

 

Schlenderndes Delirium

 

Keine brave Künstler-Doku, sondern ein entfesseltes Bildergewitter, das dieses ekstatische Lebensgefühl einer versunkenen Epoche brillant rekonstruiert: Der Funke springt über. Hélio Oiticica sprach über seine künstlerische Praxis gern als „Delirium Ambulatório“; das trifft es exakt.