Hamburg + Wien

Böse Dinge: Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks

Salz- und Pfefferstreuer in Form einer Frau, 2009. Foto: Armin Herrmann/ Quelle: Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
Schlechten Geschmack beschrieb 1912 ein Stil-Papst mit 40 Kategorien. Dass sie immer noch gelten, zeigt 100 Jahre später eine Schau im Museum für Kunst und Gewerbe. Doch sie verwässert ihre Murks- und Kitsch-Kritik mit banaler Political Correctness.

Die Ausstellung als Mitmach-Aktion: Am Eingang dürfen Besucher auf einer „Tauschbörse“ Dinge ablegen, die sie loswerden wollen, müssen aber etwas Anderes an sich nehmen. Hier warten ungeliebte Souvenirs, Nippes und Krempel auf neue Besitzer. Dieser Ringtausch erinnert an das beliebte „Schrottwichteln“: Man schafft sich etwas vom Leibe und halst sich etwas anderes auf.

 

Info

 

Böse Dinge: Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks

 

16.05.2013 - 27.10.2013

täglich 11 bis 18 Uhr, donnerstags 11 bis 21 Uhr

im Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Hamburg

Weitere Informationen

 

Katalog 15 €

 

19.02.2014 - 06.07.2014

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

im Hofmobiliendepot – Möbel Museum Wien, Andreasgasse 7, Wien

Weitere Informationen

In der guten alten Zeit, in der die Leute noch auf Autoritäten hörten, verfassten selbst ernannte Geschmacks-Päpste diverse Stil-Bibeln. Einer von ihnen war Gustav E. Pazaurek: Der Kunsthistoriker und Direktor des Landesgewerbemuseums in Stuttgart veröffentlichte 1912 seine Schrift „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“.

 

Folterkammer im Museum

 

Darin klassifizierte er „Geschmacksverirrungen“ in vier Bereiche – Material-, Konstruktions-, Dekorfehler und Kitsch –  sowie 40 Unterkategorien. Pazaurek beließ es nicht bei Theorien, sondern erweiterte sein Museum um die „Angliederung einer Folterkammer“, für die er systematisch 900 Objekte sammelte. Sie wurden bis 1933 gezeigt und dann gegen seinen Protest entfernt; heute sind davon noch rund zwei Drittel erhalten.


Impressionen der Ausstellung


 

Material-Protzerei + Ornamentwut

 

Eine kleine Auswahl hat das Berliner „Werkbundarchiv – Museum der Dinge“ ausgegraben und mit zeitgenössischen Objekten angereichert; diese Muster-Schau macht derzeit Station im Museum für Kunst und Gewerbe und wandert anschließend ins Wiener Hofmobiliendepot. Denkbar schlicht präsentiert: In Holz-Vitrinen sind alte Negativ-Beispiele aufgereiht, gegenüber stehen oder hängen ihre aktuellen Pendants.

 

Dabei zeigt sich, wie überraschend gültig und tragfähig Pazaureks Kategorienlehre geblieben ist: Sie bringt alles Falsche an miesen Produkten auf einen Begriff. Einige, wie „Material-Protzerei“, „unzweckmäßige Gestaltung“ oder „Ornamentwut“, erklären sich von selbst. Andere erfordern etwas Hineindenken in die Materie.

 

Hoffnung auf sittliche Hebung

 

Unter „Material-Pimpeleien“ versteht Pazaurek absurd aufwändige Bastelarbeiten wie ein Zeppelin aus Streichhölzern oder eine mit Münzen beklebte Flasche. Als „Dekorübergriff“ bezeichnet er, wenn das Material ein anderes nachahmt; etwa Holz mit Marmor-Musterung. Und eine „Konstruktionsattrappe“ bemängelt er, wenn die Form mit dem Zweck nichts zu tun hat, wie bei Objekten in Tier- und Pflanzengestalt.

 

Pazaureks verästeltes Begriffs-Katalog beruht auf wenigen Prinzipien: Gebrauchsgegenstände sollen solide verarbeitet, praktisch und nicht überladen sein. Diese Grundsätze teilten nicht nur seine Werkbund-Kollegen, sondern etliche Reformbewegungen, etwa das Bauhaus. Ihre Devise form follows function enthielt eine sozialutopische Hoffnung: Gelungene Gestaltung, die „gute Form“, befördere die sittliche Hebung des Menschengeschlechts.

 

Barbar sein und trotzdem Blumen lieben

 

Diese Verquickung von ästhetischer und moralischer Sphäre schwingt, obwohl selten offen ausgesprochen, bei vielen Design-Debatten mit: Als würde jemand, der sich mit schönen Dingen umgibt, automatisch ein besserer Mensch. Was selbstredend Unsinn ist: „Man kann Barbar sein und trotzdem Blumen lieben“, sagt ein blutrünstiger Gote bei Asterix.

 

Dabei werden Herstellung, Ästhetik und Ethik auf semantischer Ebene verwechselt: Gut ist erstens Funktionsfähiges im Gegensatz zu Schlechtem und zweitens Schönes im Gegensatz zu Hässlichem. Doch auch moralisch Einwandfreies wird gut genannt – im Gegensatz zu Bösem.

 

Pantoffeln mit Plüsch-Dildos

 

Pazaurek war der Unterschied klar: Er sprach von „gutem und schlechten Geschmack“. Dagegen betitelte Carl Burchard seinen „Heim-Berater“ 1937: „Gutes und Böses in der Wohnung“ – und verwandelte Missratenes in moralisch Verwerfliches.

 

Die Schau vermengt achtlos diese Begriffe – und daran krankt sie. Den Kuratoren reicht nicht, gegenwärtige Belege für Pazaureks Stil-Kritik aufzuspüren. Obwohl sie dafür genug Beispiele vom Absonderlichen bis zum Abstoßenden finden: vom komplett mit Strass beklebten Handy über Porzellan im Plastikbecher-Look und Tee-Services aus Kork bis zu Pantoffeln mit aufgenähten Plüsch-Dildos.

 

USB-Sticks als Fingerkuppen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Jugendstil bis Gegenwart – Design im 20. Jahrhundert": neue Dauerausstellung im GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dutch Design - Huis van Oranje" über aktuelles niederländisches Design im Schloss Oranienbaum, Wörlitz bei Dessau

 

und hier einne kultiversum-Beitrag über die Ausstellung “Was ist schön?” über Kriterien von Harmonie + Attraktivität, im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden.

Und vorgeführt wird, wie geschmacklos Star-Designer sein können: Philippe Starck entwirft Stehlampen in Maschinengewehr-Form. Wobei das Eldorado abartiger Gestaltung offenbar Chinas Computerzubehör-Industrie ist: Sie exportiert PC-Tastaturen aus Holzimitat, Stecker-Buchsen in seltenen Muscheln und USB-Sticks als Fingerkuppen. Solchen high tech trash hätte auch Pazaurek gegeißelt.

 

Nein, die Macher müssen die Kategorien-Tafel unbedingt um elf „heutige“ ergänzen. In ihrem kleinen Einmaleins der political correctness werden Kinderarbeit und Jugendgefährdung ebenso aufgelistet wie sexistische und rassistische Gestaltung, Artenschutzverbrechen, Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung.

 

Besser gleich ins Warenhaus

 

Zumindest die letzten beiden Kategorien treffen auf die Mehrzahl, wenn nicht die meisten aller Konsumgüter zu. Das hat nichts mit guter oder schlechter Fertigung und Gestaltung zu tun. Auch ein in Sklavenarbeit hergestelltes iPhone bleibt formschön und praktisch.

 

Auf dem Öko-Bauernhof getöpferte Keramik mag moralisch hochwertiger sein, doch sie ist oft unhandlich und hässlich. Wer fast alle Industrieprodukte als „böse Dinge“ verdammt, der ebnet jede Unterscheidung ein: Dann braucht man nicht in die Ausstellung, sondern kann gleich ins Warenhaus gehen.