Danis Tanović

Aus dem Leben eines Schrottsammlers

Nazif (Nazif Mujić) verdient den Lebensunterhalt für die Familie als Schrottsammler. Foto: ©drei-freunde Filmverleih
(Kinostart: 10.10.) Lebensrettung nur bei Barzahlung: Eine Klinik in Bosnien verweigert einer Roma-Frau die Not-OP. Für sein authentisches Doku-Drama über Alltags-Diskriminierung erhielt Regisseur Tanović den Großen Preis der Berlinale-Jury 2013.

Willkommen bei den Mujić: Ohne Vorwarnung wirft der Film das Publikum mitten hinein in das Leben von Schrottsammler Nazif und seiner Familie. Draußen ist Winter. Das Leben findet in nur einem einzigen Raum statt, in dem der Kochofen steht. Hier ist es warm.

 

Info

 

Aus dem Leben eines Schrottsammlers

 

Regie: Danis Tanović,

74 Min., Frankreich/ Bosnien-Herzegovina 2013;

mit: Senada Alimanović, Nazif Mujić, Sandra Mujić, Šemsa Mujić

 

Weitere Informationen

 

Der Fernseher plärrt den ganzen Tag für die kleinen Töchter Sandra und Šemsa, während seine schwangere Frau Senada den Haushalt macht und kocht. Nazif verdient den Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Schrott auf illegalen Müllkippen in der Umgebung. Oder er nimmt mit seinen Kollegen alte Autos auseinander, um das Altmetall zu verkaufen. Das so verdiente Geld reicht zum Überleben, aber nicht für mehr.

 

Totes Ungeborenes im Bauch

 

Als Senada eines Tages große Schmerzen bekommt, leiht sich Nazif ein Auto und fährt mit ihr in eine Klinik in der Stadt. Die Untersuchung ergibt, dass das Ungeborende in Senadas Bauch tot ist und sie schnell operiert werden muss. Aber die Familie hat keine Krankenversicherung.


Offizieller Filmtrailer


 

Weder Ratenzahlung noch Mediziner-Ehre

 

980 bosnische Mark (ca. 500 Euro) für eine Operation kann Nazif nicht aufbringen. Sein Betteln um Ratenzahlung und Appellieren an die Mediziner-Ehre helfen nichts; die Klinikleitung bleibt hart. Für Nazif beginnt ein zehntägiger Kampf mit Hilfsorganisationen und anderen staatlichen Stellen um das Leben seiner Frau.

 

Diese Geschichte hat sich ziemlich genau so zugetragen. Ein Zeitungsartikel machte Regisseur Danis Tanović, der 2002 mit der Kriegsparabel „No man’s land“ den Auslands-Oscar gewann, auf das Schicksal dieser Familie aufmerksam. Nach einem persönlichen Treffen beschloss er, eine Art semi-dokumentarisches re-enactment der Ereignisse mit den Betroffenen selbst zu drehen. Seine mutige Entscheidung wurde auf der Berlinale 2013 mit dem Großen Preis der Jury belohnt.

 

Ansatz wie im Neorealismus

 

Nur neun Tage dauerten die Dreharbeiten an Originalschauplätzen mit DV-Kamera und winzigem Team, was intensive Nähe zum Geschehen und den Personen herstellt. Doch auch die anderen Personen im Dorf, selbst manche Ärzte sind authentisch. Dieser Ansatz erinnert das an neorealistische Kino im Italien der 1940/50er Jahre, in dem Geschichten einfacher Menschen mit Laiendarstellern erzählt wurden.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Just the wind - Csak a szél" - Drama über eine Roma-Familie von Bence Fliegauf

 

und hier einen Bericht über die Dokumentation “Newo Ziro – Neue Zeit” – über Sinti + Roma in Deutschland von Robert Krieg + Monika Nolte

 

und hier einen Beitrag über den Film "Cirkus Columbia" - Tragikomödie über einen bosnischen Gastarbeiter von Danis Tanović

 

Außergewöhnlich ist aber nicht nur der Stil. Tanovic stellt ausgerechnet Angehörige der in Bosnien wenig beliebten Roma-Minderheit in den Mittelpunkt; er kehrt damit zu seinen Wurzeln als Dokumentarfilmer zurück. Seine Protagonisten führen eine Existenz am Rande der Gesellschaft. In ihrem abgelegenen Straßendorf im Wald stapelt sich zwischen selbstgebauten Häusern Müll, den der Schnee nur notdürftig verdeckt.

 

Industrie-Schlote lassen alles ergrauen

 

Außerhalb des Dorfes rauchen riesige Industrie-Schlote, die alle Fassaden schnell ergrauen lassen. In der kleinen Dorfgemeinschaft ist das Leben gut organisiert: Man hilft einander und leiht zum Beispiel ohne viele Nachfragen das Auto aus. Außerhalb des Dorfes sind die Vorurteile groß; Roma werden mit wenig Respekt behandelt.

 

So muss sich das Paar gefallen lassen, im Krankenhaus geduzt zu werden. Dass es die OP-Rechnung sofort bezahlen soll, dürfte auch an allgemeinem Misstrauen gegenüber Roma liegen, womit die Klinikleitung wissentlich das Leben ihrer Patientin gefährdet.

 

Rettung durch Kartentausch

 

Als alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, hilft nur eine kriminelle Handlung. Senada geht mit der Versicherungskarte einer Verwandten in ein anderes Krankenhaus, wo ihr sogleich geholfen wird: ein verdientes happy end. Obwohl die Protagonisten in wenig schönen Bildern leicht hölzern agieren, schlägt der Film den Zuschauer in Bann. Echter wäre nur eigene Anschauung vor Ort.