Berlin

Meret Oppenheim – Retrospektive

Meret Oppenheim mit sechs Wolken auf einer Brücke. © Foto: Margrit Baumann, Archiv Christiane Meyer-Thoss, Frankfurt am Main / Quelle: Martin-Gropius-Bau
Die bekannteste unbekannte Surrealistin: Meret Oppenheim galt lange nur als Muse der Pariser Szene; ihr eigenes, spielerisch experimentierfreudiges Werk wurde übersehen. Nun stellt es der Martin-Gropius-Bau in allen Facetten ausführlich vor.

Der Fluch der Muse: Meret Oppenheim war eine stattliche Erscheinung und wusste es. Fotos aller Lebensphasen zeigen eine stolze, selbstbewusste Frau, die sich vor Kameras in Szene zu setzen weiß. Mit markant ebenmäßigen Zügen, distanziertem Blick und diversen Posen der Selbstinszenierung: androgyne Anzugträgerin, tätowierte Schamanin oder Röntgenbild ihres Schädels als ironisches Selbstporträt.

 

Info

 

Meret Oppenheim - Retrospektive

 

16.08.2013 - 06.01.2014

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr,

im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin

 

Weitere Informationen

 

An ihr klebt seit jungen Jahren das Etikett, „Muse der Surrealisten“ zu sein; sie trägt es wie eine Bürde. Als 19-Jährige zieht sie 1932 aus Südwestdeutschland nach Paris; dort schließt sie sich Künstler-Kreisen an. Alberto Giacometti und Hans Arp führen sie bei Chefdenker André Breton und Marcel Duchamp ein. Sie beteiligt sich an Ausstellungen und ist ein Jahr lang mit Max Ernst liiert – eine stürmische Affäre.

 

Sinnlichkeit + Ambivalenz

 

1933 nimmt Man Ray die legendäre Serie Erotique voilée auf, die jedes Surrealismus-Handbuch abbildet: Aktfotos von ihr an einer Druckmaschine, die Arme schwarz getüncht. Diese Fotos enthalten alles, was die Surrealisten fasziniert: morbide Sinnlichkeit, geheimnisvolle Ambivalenz und Zusammenprall von Unvereinbarem. Vorgeführt von einer makellosen Schönheit mit modernem Bubikopf – und gerade einmal 20 Jahren.

Interview mit MGB-Direktor Gereon Sievernich + Impressionen der Ausstellung; © "Mythos Olympia"


 

Pelztasse sofort von MoMA angekauft

 

Der Fluch des frühen Erfolgs: 1936 fertigt sie zwei Skulpturen an, die sofort vom Museum of Modern Art (MoMA) in New York angekauft werden. „Ma gouvernante„, ein wie ein Brathuhn arrangiertes Paar Damenschuhe; und die „Pelztasse“, ihr berühmtestes Werk. Im selben Jahr hat sie in Basel ihre erste Einzelausstellung. 

 

Doch ihrem Durchbruch steht zweierlei im Wege: der leidige Ruf der „Surrealisten-Muse“, also nur ein Künstler-Groupie zu sein. Und Geldprobleme ihrer Familie, die nach 1933 aus Deutschland in die Schweiz emigrieren muss: Für ihren Lebensunterhalt entwirft Oppenheim Kleidung, Schmuck und modische Accessoires.

 

Anerkennung ab den 1960er Jahren

 

1937 kehrt sie nach Basel zurück und gerät in eine tiefe Krise; verständlich bei einer 24-Jährigen, die zwar kurzzeitig gefeiert wurde, aber das Gefühl hat, als Person nicht ernst genommen zu werden. Zwölf Jahre später zieht sie verheiratet nach Bern um, doch fast zwei Jahrzehnte lang beschäftigt sie sich nicht mehr mit Kunst.

 

Dann richtet sie 1954 ein neues Atelier ein und arbeitet mit Größen der Schweizer Kunstszene wie Daniel Spoerri und Jean Tinguely zusammen. Ab den 1960er Jahren folgen Anerkennung und Ehrungen: große Ausstellungen in halb Europa, Kunstpreise und 1983 der Auftrag für eine anfangs sehr umstrittene Brunnenskulptur in Bern. Zwei Jahre später wird sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, wo sie 1913 zur Welt kam; kurz darauf stirbt sie.

 

Ideen kommen gekleidet wie Athene

 

Aus Anlass ihres 100. Geburtstags richtet ihr der Martin-Gropius-Bau die bislang größte Retrospektive in Deutschland aus. Sie birgt viele echte Entdeckungen; hiesige Museen besitzen kaum Arbeiten von ihr. Die meisten befinden sich in Privatsammlungen oder der Schweiz; ihren Nachlass vermachte sie dem Kunstmuseum Bern.

 

Wobei Oppenheims Œuvre keinen wirklichen Wiederkennungswert bietet; dazu ist sie zu experimentierfreudig. Vom klassischen Tafelbild über Collagen und Skulpturen bis zu Assemblagen aus objets trouvés setzt sie ihre Gedanken und Ideen in allen möglichen Medien um: „Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit sich. So wie Athene behelmt und gepanzert dem Haupt des Zeus entsprungen ist, kommen die Ideen mit ihrem Kleid.“

 

Pelzhandschuhe mit lackierten Fingernägeln

 

Überdies nutzt Oppenheim ihr eigenes Werk als Fundus. Oft greift sie in den 1960er Jahren auf Arbeiten aus der Vorkriegszeit zurück, um sie zu verändern oder zu vollenden. Deshalb verzichten die Kuratoren auf eine chronologische Präsentation: Sie ordnen die rund 200 Exponate thematischen Kernbegriffen wie „Traumszenen und Mythen“, „Metamorphosen und Fabelwesen“ oder „Dialog mit der Natur“ zu. Das überzeugt mal mehr, mal weniger.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst" - im Städel Museum, Frankfurt/Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Hans Arp und Hugo Ball: Traumanatomie" - im Arp Museum, Remagen

 

und hier einen Beitrag über den Dokumentarfilm “Jean Tinguely” von Thomas Thümena über den umstrittenen Maschinen-Künstler

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Alberto Giacometti: Der Ursprung des Raumes" im Kunstmuseum Wolfsburg

 

Wunderbar gelungen ist etwa das Kabinett mit „Erotischen Objekten“. Zwar fehlt die Original-Pelztasse, weil das MoMA sie nicht ausleiht; Pelz-Collage und Foto-Poster erinnern daran. Doch Pelzhandschuhe von 1936 vertreten sie würdig: mit rot lackierten Fingernägeln wirken sie wie Tatzen einer Raubkatze. Daneben mutiert ein Bierglas mit Pelzschweif zum „Eichhörnchen“ (1969) und eine an den Brustwarzen einer Kleiderpuppe festgeklemmte Glasperlenkette zum „Büstenhalter-Collier“: Zartes und Aggressives sind einträchtig vereint.

 

Halsband aus Knöchelchen

 

Ähnlich ironisch-sarkastisch sind Oppenheims Entwürfe für Schmuck und Accessoires: In einem Halsband formen sich Metall-Lamellen zu Lippen; ein anderes gestaltet sie aus kleinen Knöchelchen. Als Kettenanhänger schweben ihr ein grinsender Mund mit Zigarette oder gefesselte Handgelenke vor. Wenn es in ihrem an Einfällen und Formen überbordenden Privatkosmos einen roten Faden gibt, dann dieser Zug ins Spielerische.

 

Der erschließt sich allerdings nicht immer leicht. Die Skulptur „Bon appétit, Marcel! (Die weiße Königin)“ etwa ist eine Hommage an die Schach-Leidenschaft von Marcel Duchamp. Auf einem Schachbrett liegt Besteck neben einer aus Teig gebackenen Dame-Figur. Ein Schnitt darin enthüllt die Wirbelsäule eines Rebhuhns – das lässt sich als ätzender Kommentar zu den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern auffassen.

 

Etliche dieser Arbeiten sind vieldeutig verrätselt. Sie bedürften kundiger Erläuterungen; daran fehlt es oft in dieser Schau, die sich mit allgemeinen Einführungen in jeden Themenbereich begnügt. Womit allerdings Oppenheim gewiss einverstanden wäre: Die Ausstellung belässt ihrem wandelbar vielgestaltigen Gesamtwerk sein Geheimnis.