Atiq Rahimi

Stein der Geduld

Die Frau (Golshifteh Farahani, re.) zu Besuch bei ihrer Tante (Hassina Burgan). Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 10.10.) Afghanistan als Mikrokosmos: Eine junge Frau redet mit ihrem Mann, der im Koma liegt. Das erweitert Regisseur Atiq Rahimi zur Gesellschafts-Diagnose; mit der brillanten Iranerin Golshifteh Farahani in der Hauptrolle.

Eine kleine, karge und fast leere Wohnung in der afghanischen Hauptstadt Kabul: Nach einem Vierteljahrhundert Krieg ist vielen Menschen kaum noch etwas geblieben. Hier haust eine junge Frau (Golshifteh Farahani) mit ihren beiden kleinen Kindern. Ihr Mann (Hamid Djavadan) wurde im Kampf schwer verletzt; nun liegt er im Koma. Sie pflegt ihn.

 

Info

 

Stein der Geduld

 

Regie: Atiq Rahimi,

102 Min., Frankreich/ Afghanistan 2012;

mit: Golshifteh Farahani, Hamid Djavadan, Massi Mowrat

 

Weitere Informationen

 

Da sie mittellos ist und fürchtet, was der nächste Tag bringen wird, beginnt sie in ihrer Verzweiflung, mit dem reglosen Körper an ihrer Seite zu sprechen. Erst vorsichtig und zögernd, dann zusehends freimütiger und beredter. Allmählich bricht aus ihr heraus, was sie jahrelang unterdrückt hat: Ihr stummer Zuhörer wird zu ihrem „Stein der Geduld“.

 

Tante arbeitet als Prostituierte

 

Andere Gesprächspartner hat die Frau kaum. Allenfalls einen Geistlichen, der sie mit frommen Floskeln vertröstet, und eine Nachbarsfamilie, die aber bald einem Überfall zum Opfer fällt. Bis sie ihre Tante aufspürt; die eindrucksvoll selbstbewusste Verwandte arbeitet heimlich als Prostituierte und ist ihr sehr zugetan.

Offizieller Filmtrailer


 

Vergewaltigungs-Versuch wird zu Affäre

 

Sie steckt ihrer Nichte Geld zu und nimmt die Kinder auf, als in ihrem Wohnviertel wieder einmal Panzer rollen und Maschinengewehr-Salven knattern. Nun ist die Frau in den kahlen Räumen mit ihrem Gatten allein. Bis irgendein Turbanträger-Kommando auftaucht und ein blutjunger Kämpfer (Massi Mowrat) Gefallen an ihr findet.

 

Sein verkorkster Vergewaltigungs-Versuch verkehrt sich in gegenseitige Sympathie: Dieser Grünschnabel ist noch viel unbedarfter als sie selbst. Sie führt ihn in die Geheimnisse ihres Frauenkörpers ein. Nach zehn Jahren Ehe fühlt sie zum ersten Mal Zuneigung, Zärtlichkeit und Lust. Wovon sie fatalerweise ausführlich ihrem „Stein der Geduld“ erzählt.

 

Selbstgespräch der Hauptdarstellerin

 

Darin hat Atiq Rahimi, afghanischer Schriftsteller mit französischem Pass, seinen gleichnamigen Roman von 2008 verfilmt. Und die Hauptrolle mit Golshifteh Farahani ideal besetzt: Der Star des aktuellen iranischen Autorenfilms trägt den Film praktisch im Alleingang − bis auf wenige Dialogzeilen redet sie nur mit sich selbst.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen Wadjda" - über die Unterdrückung der Frau in Saudi-Arabien von Haifaa Al Mansour

 

und hier einen Beitrag über den Film "Huhn mit Pflaumen" - Melodram im Teheran der 1950er Jahre von Marjane Satrapi mit Mathieu Amalric + Golshifteh Farahani

 

und hier einen Bericht über die Dokumentation "Generation Kunduz – Der Krieg der Anderen" von Martin Gerster über Jugend in Afghanistan.

 

Ihre Herzensergießungen wirken keine Sekunde lang geschwätzig oder ermüdend. Im Gegenteil: Die allmähliche Selbstentdeckung und -befreiung einer afghanischen Frau, die endlich nicht mehr unter der Fuchtel ihres Gebieters steht, stellt sie überwältigend glaubwürdig dar. Da muss jeder Zuhörer an ihren Lippen hängen, der nicht im Koma liegt.

 

Winzige Lebenswelt von Afghaninnen

 

„Ein ständiges Crescendo“ nennt Farahani ihren Part: Sie trägt ihn ohne melodramatisches Pathos in so vielfältigen Nuancen vor, dass die Enge ihres Aktionsradius‘ umso schmerzlicher spürbar wird. Ihr Mikrokosmos aus wenigen Zimmern, einem Innenhof und kurzen Besorgungsgängen um die Ecke verdeutlicht, wie winzig die Lebenswelt von Afghaninnen ist.

 

Ihre Entfaltung wäre nur denkbar, wenn der Ehemann ausgeschaltet ist: als Vertreter einer archaisch patriarchalischen Gesellschaft, die jede Selbstbestimmung von Frauen unterdrückt. Ihr Leben lang schreiben ihnen Männer ununterbrochen vor, was sie zu tun und zu lassen haben: erst der Vater und Brüder, dann der Gemahl und dessen Verwandte.

 

Militär + Hilfsprojekte helfen nicht

 

Das verpackt Rahimi in eine minimalistische Parabel, die er präzise durchkomponiert hat. Seine bittere Pille überzieht eine gefällige Glasur: betörend stimmungsvolle Bilder sind mit dezent atmosphärischer Musik unterlegt. Doch an seiner tristen Diagnose werden noch so viele Militär-Missionen und Hilfsprojekte kurzfristig nichts ändern können.