Sie kennen nur Schwarz und Weiß: Stummfilme erleben zurzeit eine kleine, aber höchst erfolgreiche Renaissance. Sei es als Oscar-prämiertes Hollywood-Melodram wie „The Artist“ (2011) von Michel Hazanavicius, sei es als verspielte Klassiker-Hommage mit politischen Anspielungen wie „Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld“ (2012) von Miguel Gomes; er erhielt dafür den Berlinale-Preis für „neue Perspektiven der Filmkunst“.
Info
Blancanieves –
Ein Märchen von Schwarz und Weiss
Regie: Pablo Berger,
104 Min., Spanien/ Frankreich 2012;
mit: Maribel Verdú, Ángela Molina, Daniel Giménez Cacho, Macarena García
Früher war alles übersichtlicher
Solche Nostalgie-Abstecher in die Filmgeschichte kommen beim Publikum an. Vielleicht bedienen sie Sehnsüchte nach Verhältnissen, die früher geordneter und übersichtlicher waren. Oder sie sind – ähnlich wie Kinderbücher für Erwachsene und Comic-Verfilmungen – reiner Eskapismus: Ausflüge ins Fabelreich der Wünsche und Träume.
Offizieller Filmtrailer
Retro-Stil für Nischen-Nachfrage
Eventuell lässt der postmoderne Kulturbetrieb nur einen weiteren Retro-Stil wieder aufleben, weil er dafür eine Nischen-Nachfrage vermutet; wie auch songwriter und folk music plötzlich wieder in der Pop-Industrie gefragt sind. Vielleicht tragen alle drei Faktoren zum Erfolg der Neo-Stummfilme bei. Jedenfalls hat noch keiner ihre historische Kino-Ästhetik so perfekt imitiert wie „Blancanieves“.
Regisseur Pablo Berger verzichtet auf Wirklichkeitsnähe und greift stattdessen zu einem Stoff der Brüder Grimm. Er verlegt das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen ins Spanien der 1910/20er Jahre: Die kleine Carmencita wächst bei ihrer Großmutter auf. Ihre Mutter starb bei der Geburt, ihr Vater Antonio (Daniel Giménez Cacho) – früher ein gefeierter Torero – sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl.
Gift-Apfel nach Stierkampf-Sieg
Als er seine Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú) heiratet und ihre Oma stirbt, wird sie von ihrer neuen Stiefmutter gepeinigt: Sie verbannt Carmencita in den Keller, schlachtet ihren Lieblings-Hahn und will sie ermorden lassen. Von einer Truppe fahrender Liliputaner gerettet, wächst Carmencita zur schönen jungen Frau (Macarena García) heran. Sie entpuppt sich als virtuose Stiefkampf-Kämpferin; das hatte ihr der gelähmte Vater beigebracht.
Die sieben Zwerge führen auf Marktplätzen Stierkampf-Parodien auf; Carmen ist deren Star. Dann soll sie in Sevillas großer Arena auftreten, in der ihr Vater einst seine bitterste Niederlage erlebte; unter den Zuschauern sitzt die böse Schwiegermutter und spritzt Gift in einen Apfel. Carmen triumphiert, doch nach dem Biss in die vergiftete Frucht bricht sie leblos zusammen. Aus ihrem Todesschlaf wird sie kein Kuss zahlender Schaulustiger aufwecken.
Stummfilm-Optik in Kollektiv-Erinnerung
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Tabu (2012) – Eine Geschichte von Liebe und Schuld" von Miguel Gomes - Remake des Stummfilm-Klassikers von F.W. Murnau
und hier einen Beitrag über den Film "The Artist", brillantes Neo-Stummfilm-Melodram von Michel Hazanavicius, mit fünf Oscars prämiert
und hier einen Bericht über den Film "Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod" - groteske Parabel über Spaniens Geschichte von Alex de la Iglesia
Die Stummfilm-Optik lässt diese Tableaus noch authentischer erscheinen; jene Epoche sieht in der kollektiven Erinnerung genau so aus. Anspielungen auf die Geschichte des Kinos und Spaniens mögen Cineasten und Bergers Landsleute entschlüsseln.
Mit zehn Goyas ausgezeichnet
Dagegen treten alle Schauspieler erkennbar zeitgenössisch auf; keiner kopiert die pathetische Gestik in den Anfangstagen des Kinos. Ihrem Spiel verleihen Kulissen und Kostüme ohnehin genug exotisches Flair, wenn etwa die kindlich staunende Carmen in der Kutsche ihrer Jahrmarkts-Zwerge durch die Lande gondelt. Da würden Übertreibungen nur stören.
So kombiniert der Film historisch korrektes re-enactment einer längst vergangenen Ära mit einer zeitlosen Parabel über kaputte Familien: böse Eltern quälen auch heutzutage unschuldigen Nachwuchs. Das hinreißende Melodram in nostalgischem Gewand hat zurecht Erfolg: „Blancanieves“ wurde im Februar mit zehn Goyas ausgezeichnet, den höchsten spanischen Filmpreisen.