Alle Jahre wieder ein neuer Woody Allen: Der 77-jährige workaholic bringt in diesem Herbst seinen 43. Kinofilm seit 1969 heraus. Neben Allens treuer Fan-Gemeinde dürfte „Blue Jasmine“ auch ein Publikum erreichen, dass sonst mit seinem Humor nicht viel anfangen kann. Denn dieser Film reicht über Allens typische Konversations-Komödien weit hinaus.
Info
Blue Jasmine
Regie: Woody Allen
98 Min., USA 2013
mit: Cate Blanchett, Alec Baldwin, Sally Hawkins
Vergewaltigung + Wahnsinn
Im Theaterstück zieht die dünkelhafte, aber bankrotte Blanche zu ihrer Schwester Stella nach New Orleans und wiegelt sie gegen ihren hemdsärmeligen Partner Stanley auf. Der rächt sich, indem er frühere Fehltritte von Blanche enthüllt und sie vergewaltigt. Das treibt sie, die ohnehin in einer Traumwelt lebt, in den Wahnsinn.
Offizieller Filmtrailer
Ehemann als Betrüger entlarvt
Mehr als ein halbes Jahrhundert später sieht die Personenkonstellation ähnlich aus – mit zeitgemäßen Unterschieden. Jasmine (Cate Blanchett) ist abgestürzt: Die Mittvierzigerin mit aristokratischer Ausstrahlung führt Selbstgespräche, trinkt zuviel und muss Psychopharmaka nehmen. An der Seite ihres Ehemannes Hal (Alec Baldwin) lebte sie bis vor kurzem unter den oberen Zehntausend von New York: mit Traumwohnung, Ferienhaus und eleganten Dinnerpartys.
Doch ihr Mann wird als Betrüger entlarvt und inhaftiert. Das Vermögen ist weg, ihr Sohn will nichts mehr von ihr wissen. Jasmine steht vor einem Scherbenhaufen; ihre rosaroten Illusionen sind zerborsten. Verzweifelt zieht sie nach San Francisco zu ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins): Da sie neu anfangen muss, soll kein früherer Bekannter ihren sozialen Abstieg mitbekommen.
In Wut das Telefon aus der Wand reißen
Der Kontrast zwischen beiden Schwestern könnte kaum größer sein. Ginger ist Kassiererin im Supermarkt, führt mit zwei Kindern ein chaotisches Leben und arrangiert sich mit ihrem bodenständigen Ex-Mann, so gut es geht. Auch ihr raubeiniger Liebhaber Chili (Bobby Cannavale) kommt aus einfachen Verhältnissen und ist nicht gerade ein gentleman. Er hat zwar das Herz am rechten Fleck, reißt aber schon mal ein Telefon aus der Wand, wenn er in Rage ist.
Voller Scham und Überwindung nimmt Jasmine einen Job in einer Zahnarztpraxis an. Die Schwestern versuchen, sich in der kleinen Wohnung zu arrangieren, doch Jasmine macht keinen Hehl daraus, dass sie Gingers Männer allesamt für loser hält. Als Eindringling aus einer anderen Sphäre stiftet sie Unfrieden in der bislang homogenen Welt von Ginger und Chili: eine herrliche Milieu-Studie, in der sich Sally Hawkins zu Cate Blanchett verhält wie Feuer zu Eis.
Keine Pillen gegen Absturz
Dann lernen die Schwestern neue Männer kennen. Jasmine setzt ihre Hoffung abermals auf einen vornehmen Versorger: Der Diplomat Dwight (Peter Sarsgaard) hat das Zeug zum Retter in der Not, und Jasmine malt sich ihre Zukunft wieder rosarot aus.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “To Rome with Love” - Rom-Komödie von Woody Allen mit Alec Baldwin
und hier einen Bericht über die Dokumentation “Woody Allen: A Documentary” von Robert B. Weide
und hier eine Rezension des Films “Midnight in Paris” - Zeitreise in die 1920er Jahre von Woody Allen
Hohn über US-Geldadel
Dieses Porträt einer gefallenen high society lady darf als Allens galliger Kommentar zum neureichen US-Geldadel gelten: Den hatte er schon 2011 in „Midnight in Paris“ als Bande statusfixierter Ignoranten karikiert. Nun, nach jahrelanger Wirtschaftsflaute, wird sein Ton schärfer: Finanzjongleur Hal ist kriminell, seine Frau Jasmine eine Traumtänzerin – wie Blanche bei Tennessee Williams.
Das verleiht „Blue Jasmine“ eine Tragik und damit Realitätsnähe, wie sie in Woody-Allen-Filmen selten sind. Dazu trägt vor allem Hauptdarstellerin Cate Blanchett bei: Wie sie scheinbar mühelos die Seelenregungen eines hochnäsigen Luxusweibchens bei der Bruchlandung in der rüden Wirklichkeit hervorzaubert, ist eine Oscar-reife Leistung.
Ein perfekt beobachteter Film, der genau die richtige Balance zwischen Tristesse und Komik findet. Wie häufig bei Woody Allen ist er ziemlich wortlastig; doch das hochkarätige Ensemble spielt locker über kleine Schwächen hinweg. Absolut sehenswert!