Jeff Orlowski

Chasing Ice

Adam LeWinter im Survey Canyon auf Grönland. Foto: NFP marketing & distribution
(Kinostart: 7.11.) Klima-Katastrophe zum Anfassen: Der US-Naturfotograf James Balog dokumentiert das Abschmelzen der Gletscher. Regisseur Jeff Orlowski beobachtet ihn hautnah; seine grandiose Doku informiert sachlich mit spektakulären Bildern.

Für die Erwärmung der Erdatmosphäre haben Menschen kein Gespür. Das Hauptproblem an dieser epochalen Umwälzung sei ihre Größenordnung, betont der Naturfotograf und Diplom-Geograf James Balog: Statistiken voller Zahlenkolonnen und abstrakte Computer-Modelle sagten den Leuten wenig.

 

Info

 

Chasing Ice

 

Regie: Jeff Orlowski

72 Min., USA 2012

mit: James Balog, Adam Lewinter, Svavar Jónatansson

 

Website zum Film

 

Damit das Ausmaß dieser Bedrohung deutlich werde, müsse man sie vor Augen führen mit Bildern, die jeder versteht – gewissermaßen Klima-Katastrophe zum Anfassen. Solche Bilder sammelt Balog: Seit 2007 fotografiert er das Abschmelzen von Gletschern in Polargebieten.

 

Fotografieren bei minus 40 Grad

 

Das klingt einfach, ist aber immens aufwändig, wie Jeff Orlowskis Dokumentation zeigt. Balogs Team musste zunächst geeignete Spezial-Kameras konstruieren, die auch bei minus 40 Grad und widrigsten Witterungsbedingungen verlässlich Schnappschüsse machen: je einen pro Stunde. 25 solcher Kameras installierte das Team auf Island, Grönland, in Alaska und Montana.


Offizieller Filmtrailer


 

Ballons, aus denen Luft entweicht

 

Was nach drei Jahren Arbeit mit einigen Rückschlägen zusammenkommt, ist atemberaubend. Im Zeitraffer sieht man, wie die Gletscher dahinsiechen. Ihre riesigen Packeis-Zungen schrumpfen dramatisch: Sie verlieren an Volumen und ziehen sich gleichzeitig zurück wie „Ballons, aus denen die Luft entweicht“, stellt der Fotograf fest.

 

Natürlich wird das Phänomen auch vermessen. Doch alle Zahlenangaben über soundsoviel Höhenverlust und Rückzug ins Binnenland verblassen angesichts der Anschauung, wenn Balog eine nur wenige Monate alte Panorama-Aufnahme vor die aktuelle Ansicht hält: Von gewaltigen Eismassen ist kaum etwas übrig geblieben.

 

Dunkler Staub bohrt Löcher in Eisdecke

 

Allerdings belässt es Regisseur Orlowski nicht bei Schock-Effekten. Zentrale Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels – etwa die Konzentration von Kohlendioxid-Partikeln in der Luft oder der absehbare Anstieg der Meeresspiegel – spricht er ebenfalls an. Er lässt auch kommentarlos Klimawandel-Skeptiker der US-Republikaner in TV-Ausschnitten zu Wort kommen: Ihre geifernden Tiraden desavouieren sich selbst.

 

Dagegen lernt man einiges über Glaziologie, der Wissenschaft von Eis und Schnee; etwa, warum sich runde Schmelzlöcher in Gletscher bohren. Dafür ist Kryokonit verantwortlich: Dunkle Staub-Ablagerungen wie Ruß absorbieren mehr Sonnenlicht, was den Schnee darunter schmelzen lässt. Solche Löcher können sich kilometertief in die Eisdecke bohren. Sie wird in so genannten Gletschermühlen von rotierendem Schmelzwasser unterspült; dann brechen ganze Inseln ab.

 

Eisberg von der Größe Manhattans

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films Promised Land – Politthriller über Gas-Förderung mittels Fracking von Gus van Sant

 

und hier einen Bericht über den Film "Samsara" – HD-Bilderbogen über Naturschönheiten + ihre Zerstörung von Ron Fricke

 

und hier einen Beitrag über den Film "How I ended this summer" – Drama auf einer Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010.

 

Doch Balog und Orlowski liegt nicht nur an Aufklärung. Sie sind fasziniert von der irrealen Schönheit der Eiswüsten mit ihrer „fantastischen Formenvielfalt, die alles umfasst, was Architektur und Design je erfunden haben“, wie sich der Fotograf begeistert. Diese Formen bannen beide in spektakuläre Bilder. Mit Sinn für Dramatik, wenn sich etwa Balog und Kollegen in klaffende Eisspalten abseilen und der Zuschauer mitbangt, ob sie unbeschadet wieder herauskommen.

 

Oder zwei junge Helfer tagelang ausharren, um das Kalben des Ilulissat-Gletschers in Grönland zu filmen. Dann ist es endlich soweit: Mit donnerndem Getöse bricht ein Eisschild ab und treibt wie ein gigantischer Wal ins Meer hinaus. Der Eisberg hat das Ausmaß der Halbinsel von Manhattan, aber drei Mal soviel Volumen: der größte derartige Vorgang, der je beobachtet wurde.

 

Wie im „National Geographic“

 

Solche special effects mischt Orlowski geschickt mit Sachinformationen und human interest über das Team der Foto-Haudegen; ähnlich wie die Erfolgs-Formel des Magazins „National Geographic“, für das Balog arbeitet. Wie eine gute Titel-Story ist „Chasing Ice“ sehr ökonomisch komponiert und wurde nicht künstlich auf die übliche Spielfilmlänge von 90 Minuten aufgeblasen. In dieser Doku ist keine Einstellung überflüssig – und fast jede ein außergewöhnlicher Augenschmaus.