Frankfurt am Main

Hélio Oiticica: Das große Labyrinth + Brasiliana

Porträt Hélio Oiticica, Foto von Ivan Cardoso, 1979. Foto: © Ivan Cardoso/ Quelle: MMK Museum für Moderne Kunst
Expeditionen auf einen kaum bekannten Kunst-Kontinent: Das MMK stellt den "Andy Warhol Brasiliens" erstmals in Deutschland ausführlich vor. Die Schirn präsentiert acht große Raum-Installationen – ein alle Nerven kitzelndes Fest für die Sinne.

 

Nachlass geht 2009 in Flammen auf

 

1970 emigriert der Künstler nach New York. Dem Dauerkokser bekommt die große Freiheit schlecht: Fortan kreisen seine Entwürfe meist um das weiße Pulver oder wiederholen frühere Ideen. 1980 stirbt er mit nur 42 Jahren an einem Schlaganfall.

 

Doch seine Bedeutung für Brasiliens Kunst-Szene ist ungebrochen, obwohl ein Großteil seines Nachlasses 2009 in Flammen aufging. Was übrig blieb, ist im MMK zu sehen. Beispiele aus allen Schaffensphasen erlauben, seine Entwicklung nachzuvollziehen: wie rasch er von einer Form zu anderen wechselte, immer auf der Suche nach intensiven Eindrücken.

 

Kokain im Antlitz von Jimi Hendrix

 

Die verwinkelte Architektur des Museums passt perfekt zu dieser Ausstellung: Hinter jeder Ecke lauert die nächste Überraschung – bis hin zu Wänden am Treppenaufgang, die mit Oiticica-Farben getüncht sind. Warum er sie empfiehlt, lässt sich in seinen verschlungenen Theorien nachlesen: Sie werden im Katalog erstmals auf Deutsch publiziert.

 

An Oiticica kommt auch die Schirn Kunsthalle nicht vorbei. Für ihre Brasiliana-Ausstellung hat sie leider eine schwache Arbeit ausgewählt: Cosmococa CC5 (Hendrix War) dachte er sich 1973 mit dem Filmemacher Neville D’Almeida aus: Durch den Raum spannen sich Hängematten. Ringsum werden Plattencover von Jimi Hendrix an die Wände projiziert; seine Gesichtszüge sind mit Kokainlinien markiert.


Impressionen der Ausstellung "Brasiliana"


 

Symbolische Wiedergeburt

 

Wie damals die beiden Koksnasen abhingen, um sich ihren Stoff und Hendrix‘ Gitarrensoli reinzuziehen, wird sehr anschaulich; mehr aber auch nicht. Oiticica-Weggefährtin Lygia Clark ermöglicht dagegen dem Besucher, seine eigene Empfängnis und Geburt symbolisch zu durchlaufen.

 

Das geht mit A casa é o corpo („Das Haus ist der Körper“) von 1968 ganz einfach. Obwohl der Einstieg in einen stockdunklen Kasten schwierig ist: Luftballons (Eier oder Spermien?) versperren den Weg. Ein „Geburtskanal“ aus aufgeblasenem Plastik führt in den zweiten Kasten. Hier erfreuen bunte Fäden und Kugeln die Sinne, bevor man in die Außenwelt entlassen wird.

 

Sozialkritik der schlichten Art

 

Starke Reize verbreiten alle acht gezeigten Installationen; das eint sie neben ihrem Herkunftsland und Platzbedarf. Dennoch bleiben einige blass. Rio oir von Cildo Meireles lässt in der Dunkelkammer Wassergeräusche, im Spiegelkabinett lautstarkes Gelächter ertönen; beides nervt. Ernesto Neto hängt sackartige Netze auf, die er mit Gewürzen füllt. Deren Duft scheint längst verflogen; die im Raum baumelnden Beutel sind ein trister Anblick.

 

Sozialkritik der schlichten Art bietet das Dreikanal-Video Universo do Baile von Dias & Riedweg. In der Mitte prangt Brasiliens Flagge, links stammelt sich ein Transvestit durch den Verfassungstext, rechts toben Teenager bei einer outdoor party und prügeln sich mit Ordnern. Merke: Konstitutionell garantierte Bürgerrechte gelten nicht jederzeit und überall.

 

Tropfsteinhöhle aus dünnem Sperrholz

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Dokumentarfilms "Hélio Oiticica" - brillantes Künstler-Porträt von seinem Neffen Cesar Oiticica Filho

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien” im KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung “Das Verlangen nach Form” über Neoconcretismo + zeitgenössische Kunst aus Brasilien in der Akademie der Künste, Berlin

 

Etwas subtiler geht Tunga vor: Seine Triade Trinidade besteht aus massigen Materialien wie Kübeln und Töpfen, Ketten und Stangen, einer großen Bronzeglocke und Seilen. Dieses heavy metal environment wurde am Eröffnungstag in einer Performance mit Lehm beschmiert: als sei es die Weihestätte eines archaischen Kults. Ohne zeremonielles Tamtam erscheint das Ensemble eher wie eine archäologische Ausgrabungsstätte, die erschöpft ist.

 

Die jüngsten Teilnehmer liefern hingegen die besten Beiträge. Der 40-jährige Henrique Oliveira montiert aus dünnem Sperrholz, das in Brasilien für Bauzäune verwendet wird, fantastische Kreationen: An Luftwurzeln erinnernde Gebilde umschlingen ganze Stockwerke oder Fassaden. Für die Schirn hat er eine Art Tropfsteinhöhle gebaut, die beim Betreten mit Empfindungen wie im Erdinneren aufwartet.

 

Raffiniert + sinnesfroh

 

Und Maria Nepomuceno, geboren 1976, schafft aus bunten Stricken und Stroh ihre eigene Welt. Zu organisch anmutenden Formen geflochten, ringeln sie sich über den Boden, klettern wie Tentakel die Wände empor oder bilden Gefäße, in denen Perlen verführerisch glitzern. Ein Parallel-Kosmos wie der Dschungel: Alles schillert, verändert sich ständig und ist anders, als es scheint. Das ist so raffiniert wie sinnesfroh – und von kopflastiger Konzept-Kunst so weit entfernt wie Brasilien von Deutschland.