
Mit Animationsfilmen verbindet man mittlerweile meist allerlei bonbonbuntes, quitschfideles Getier, Spielzeug oder gar Fleischbällchen, die von den üblichen 3D-Studios in immer kürzeren Abständen auf die Menschheit losgelassen werden. Dabei kann Zeichentrick durchaus philosophischen Tiefgang aufweisen, wie etwa „Ghost in the Shell“ (1995) von Mamoru Oshii.
Info
Alois Nebel
Regie: Tomáš Luňák
84 Min., Tschechien / Deutschland 2011
mit: Miroslav Krobot, Leoš Noha, Karel Roden, Marie Ludvíková
Verdrängtes Kapitel der Zeitgeschichte
Nun legt Tomás Lunák mit „Alois Nebel“ eine Verfilmung der gleichnamigen tschechischen graphic novel vor. Ähnlich wie „Waltz with Bashir“ behandelt auch dieser Film ein bisher unzureichend aufgearbeitetes Kapitel der Zeitgeschichte: die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Offizieller Filmtrailer
Hobby: alte Fahrpläne sammeln
Doch während Ari Folman seine persönliche Perspektive wählte, um ein historisches Geschehen zu rekonstruieren, verdichtet Tomás Lunák ein dunkles Kapitel der nationalen Geschichte in das Schicksal einer einzelnen, fiktiven Figur hinein.
1989 liegt die realsozialistische Tschechoslowakei in den letzten Zügen. Davon bekommt der Bahnhofsvorsteher Alois Nebel auf seiner abgelegenen Station des Örtchens Bílý Potok im grenznahen Altvater-Gebirge wenig mit. Dem stoischen Einzelgänger leistet nur sein Kater Gesellschaft; als Hobby sammelt er alte Fahrpläne.
Im Rotoskopie-Verfahren erstellt
Das Murmeln von Anfahrts- und Abfahrtszeiten beruhigt Alois, wenn der Nebel heraufzieht und er von düsteren Fetzen der Erinnerung an seine Kindheit geplagt wird. Dann erleidet Alois einen Nervenzusammenbruch und wird in ein finsteres Sanatorium eingewiesen. Dort begegnet er „dem Stummen“; nach dieser Bekanntschaft beschließt er, sich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen.
„Alois Nebel“ wurde im Rotoskopie-Verfahren erstellt. Dabei wird zunächst die gesamte Handlung als Realfilm mit echten Schauspielern gedreht. Dieser Film wird auf eine Glasscheibe projiziert und dort Bild für Bild abgezeichnet, wodurch erst der eigentliche Animationsfilm entsteht.
Ein Kafkas Heimat würdiger Fatalismus
Im Vergleich zu konventionellen Animationsfilmen lässt sich mit Rotoskopie der Eindruck von Realismus steigern, der sich vor allem in den absolut lebensechten Bewegungen der Figuren zeigt. Zugleich wurde „Alois Nebel“ so weit verfremdet, dass eine tatsächlich filmische graphic novel entstanden ist. Die visuelle Gestaltung des Films ist schlicht herausragend: Völlig zurecht wurde er 2012 als bester europäischer Animationsfilm ausgezeichnet.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseur Tomáš Luňák und Drehbuch-Autor Jaroslav Rudiš
und hier eine Besprechung des Films "Chico & Rita" - Jazzige Animations-Love-Story von Fernando Trueba + Javier Mariscal
und hier einen Bericht über den Film "The Congress" - Science-Fiction-Animationsfilm von Ari Folman mit Robin Wright
Stimmung meisterhaft eingefangen
Diese optische Gestaltung spiegelt das Thema des Ringens mit einer Identität: die der Hauptfigur vereint sowohl deutsche als auch tschechische Elemente. Die melancholische Grundstimmung von innerem Stillstand und Aus-der-Zeit-Gefallen-Sein akzentuiert zusätzlich die sparsam eingesetzte Musik.
Regisseur Tomás Lunák will keine Geschichtsstunde betreiben. Der historische Hintergrund zur Vertreibung der Sudetendeutschen wird quasi nebenher erzählt. In „Alois Nebel“ geht es nicht um Fakten, die man nachlesen kann, sondern darum, die besondere Stimmung in diesem dünn besiedelten tschechischen Grenzland einzufangen: zwischen verdrängter, düsterer Vergangenheit und zaghaftem demokratischen und menschlichem Neubeginn. Das gelingt diesem kleinen schwarzweißen Film-Juwel ganz meisterhaft.