Tomáš Luňák + Jaroslav Rudiš

Jeder trägt Alois Nebel mit sich herum

Regisseur Tomáš Luňák (li.) und Drehbuchautor Jaroslav Rudiš auf dem Filmfestival in Venedig 2011. Foto: Zimbio
Der Animationsfilm "Alois Nebel" war in Tschechien ein Knüller – obwohl die Hauptfigur ein einsamer Provinz-Bahner ist. Regisseur Luňák und Drehbuchautor Rudiš über ihr langwieriges Rotoskopie-Verfahren, Coming Out für Eltern und ein Land ohne Helden.

Sie haben für „Alois Nebel“ die Rotoskopie-Methode eingesetzt: Man dreht zuerst einen realen Film, der dann Bild für Bild abgezeichnet wird; dadurch haben die Dreharbeiten zweieinhalb Jahre gedauert. Warum haben Sie dieses sehr aufwändige Verfahren gewählt?

 

Tomáš: Wir mögen keine einfachen Lösungen; ein Film verdient eine gewisse Sorgfalt. Außerdem suchten wir nach der passenden Art, eine graphic novel filmisch umzusetzen: Rotoskopie hat viele Vorteile, aber ein Nachteil ist, dass alles sehr lange dauert. Wir haben den Film mit normalen Schauspielern an realen Schauplätzen gedreht: Wir wollten das Reale sichtbar durchscheinen lassen und das reale Agieren der Schauspieler aufnehmen.

 

Info

 

Alois Nebel

 

Regie: Tomáš Luňák,

84 Min., Tschechien/ Deutschland  2011;

mit: Miroslav Krobot, Leoš Noha, Karel Roden

 

Website zum Film

 

Normalerweise denkt man sich für einen Animationsfilm die Bewegungen aus; hier kommen sie von den Schauspielern. Dann muss man sie Bild für Bild per Hand abzeichnen. Dafür hatten wir Spezialisten, von denen sich jeder mit einer Figur beschäftigte. Einer hat nur Alois Nebel gezeichnet, ein anderer sogar nur Haare.

 

Anfang + Ende schwarzweiß

 

Manche Hintergrundaufnahmen – etwa die Gebäudekuppel des Hauptbahnhofs in Prag – sehen so aus, als seien Realbilder nur eingeschwärzt worden.

 

Tomáš: Genau das haben wir beabsichtigt. Anfang und Ende des Films sind völlig in Schwarzweiß gehalten. Je mehr Alois Nebel in die gewöhnliche Realität eintritt, desto mehr reale Hintergründe kommen ins Spiel, um die Dramatik der Handlung zu betonen.


Interview mit Regisseur Tomáš Luňák und Autor Jaroslav Rudiš


 

Märchenhaft romantisches Altvater-Gebirge

 

Mit 130.000 Zuschauern war der Film in Tschechien äußerst erfolgreich. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, wäre das mehr als eine Million Zuschauer. Was hat die Tschechen so interessiert: die Verfilmung einer graphic novel, oder die Thematik der Vertreibung der Sudetendeutschen?

 

Jaroslav: Keine Ahnung; wenn wir das nur wüssten! Da kommt offenbar vieles zusammen: außerdem noch die Musik unseres Zeichners Jaromir 99, dessen Band „Priessnitz“ in Tschechien sehr bekannt ist; das Altvater-Gebirge, das so märchenhaft romantisch dasteht; die Leser meiner Bücher und die Figur des Alois Nebel, der ein ganz normaler Tscheche ist.

 

Deutsche fahren mit graphic novel ins Gebirge

 

In der graphic novel hat er viel von einem Schwejk und erzählt lauter traurige und lustige Geschichten; davon kommt im Film weniger vor. Für uns ist das ein Glücksfall: Die graphic novel hat sich in Tschechien über 30.000 Mal verkauft. Auch in Deutschland gibt es für sie ein wachsendes Publikum. Es sind schon Deutsche mit der graphic novel in der Hand ins Altvater-Gebirge gefahren; das ist natürlich toll.

 

Überdies ist das Anbandeln von Alois mit Květa, der Toilettenfrau im Prager Hauptbahnhof, eine Liebesgeschichte von und für ältere Leute. Das war nicht nur für junge Leute, etwa Prager hipster, eine neue Erzählweise; sie hat auch die Generation unserer Eltern angesprochen. Es ist eine späte Liebesgeschichte; eine Art coming out story.

 

Von der Geschichte herumgeschleudert

 

„Alois Nebel“ hat einen düsteren zeitgeschichtlichen Hintergrund: die Vertreibung der Sudetendeutschen, doch nur als Nebenthema in einer kleinen, leisen Geschichte. Was bewegt das tschechische Publikum daran?

 

Tomáš: Es ist die Geschichte einer Generation, die die Geschichte nicht gemacht hat; sondern sie wurde von der Geschichte herumgeschleudert und irgendwo hingeschmissen. Nun muss sie sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen.

 

Drehbuchautor Rudiš sammelt Fahrpläne

 

Können sich viele Tschechen mit Alois Nebel identifizieren – weil sie wie er als kleine Leute den Lauf der Geschichte untätig erfahren haben?

 

Jaroslav: Ja, es ist gut möglich, dass sie sich mit ihm identifizieren können. Jeder trägt etwas von Alois Nebel mit sich herum. Vielleicht können wir uns selbst in 20 Jahren ebenso mit ihm identifizieren. Ich kann das schon jetzt gut; ich sammele ja auch Fahrpläne wie er.

 

Tomáš: Vielleicht haben wir den Film für die Generation unserer Eltern gemacht – um uns damit darauf vorzubereiten, was auch auf uns zukommen kann. Es geht nicht um die großen zeitgeschichtlichen Ereignisse, sondern um das, was dahinter steht.

 

Politisch passive Tschechen

 

„Alois Nebel“ spielt im Jahr 1989. Im Hintergrund sind in Radio und TV die großen Umstürze dieses Jahres zu hören und zu sehen: vom Fall der Berliner Mauer bis zur Amtseinführung von Vaclav Havel als neuem Präsidenten – aber das interessiert keinen. Haben Tschechen in der Provinz „Samtene Revolution“ und Systemwechsel so passiv erlebt?

 

Jaroslav: Die Tschechen sind politisch sehr passiv. Auch jetzt denkt man immer: Na ja, die Politiker machen das irgendwie. Man geht nicht auf die Prager Burg (Amtssitz des Präsidenten, A.d.R.), um zu demonstrieren. Man meckert über die korrupten Politiker, aber was sie machen, passiert irgendwie neben uns; wir haben unsere kleinen Probleme.

 

Wichtig ist, dass die Kneipe nicht zumacht

 

Für uns ist wichtig, dass wir unseren Lohn kriegen, und dass die Kneipe nicht zumacht; wir haben unser kleines Leben. Aber ich würde das Leuten wie diesem Alois Nebel auch nicht vorwerfen; man kann das wohl auch hier in Brandenburg beobachten.

 

Tomáš: Die Tschechen brauchen jemanden, der sich um sie kümmert. Wir haben keine richtigen Helden. Die Polen haben große Helden, wir nicht. Doch ich meine, dass Alois Nebel ein Held ist.

 

Wir versuchen, zu vergessen

 

Der Film hat den Preis für den besten Europäischen Animationsfilm 2012 erhalten. Danach würde jeder Comiczeichner oder Hollywoodfilmer Fortsetzungen machen – was macht Ihr als nächstes?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Bericht über den Film "Alois Nebel"  - Animationsfilm von Tomáš Luňák + Jaroslav Rudiš

 

und hier eine Besprechung des Films "Chico & Rita"  - Jazzige Animations-Love-Story von Fernando Trueba + Javier Mariscal

 

und hier einen Bericht über den Film "The Congress"  - Science-Fiction-Animationsfilm von Ari Folman mit Robin Wright

 

Tomáš: Wir versuchen, zu vergessen. Wir haben uns insgesamt fünf Jahre lang mit „Alois Nebel“ beschäftigt; erst seit einem halben Jahr lebe ich ohne ihn. Doch für uns ist sehr wichtig, den Film in Deutschland zu zeigen zu können: An dieses Publikum haben wir von Anfang an gedacht, denn es ging uns um Mitteleuropa.

 

Züge zum Desaster der Geschichte

 

Die Geschichte spielt zwar am Arsch der Welt: im Altvater-Gebirge in einem ganz kleinen Bahnhof, doch es ist keine lokale Geschichte. Diese Züge sind durch ganz Mitteleuropa gefahren; sie haben alle Armeen transportiert, die Juden nach Auschwitz, die Vertriebenen, dann wieder Armeen und Soldaten. Diese Züge haben zum Desaster der Geschichte beigetragen.

 

Jaroslav: Wir würden uns gern von Alois Nebel befreien, um eine neue graphic novel zu machen. Wir haben so Leitideen, aber er verfolgt uns einfach immer noch. Ich schreibe auch Romane, wir machen Musik, und Jaromir 99 hat eine Kafka-Adaption von „Das Schloss“ gezeichnet. Aber es ist schon schwierig, sich im Bereich graphic novel von IHM zu befreien; das geben wir zu. Früher oder später machen wir sicher wieder eine kleine „neblige“ Geschichte.