Der Himmel hängt voller Stromleitungen, am Horizont wuchern Gewerbebauten und Wohn-Silos, im Mittelgrund recken sich Minarette einer Moschee empor. In dieser wenig anheimelnden Peripherie zwischen Rest-Natur und Metropolen-Moloch ist ein junger Mann mit Reisetasche unterwegs. „Ein Dorfbewohner aus Aricaköyü kommt in Istanbul-Mahmutbey an“, heißt Jeff Walls Großdia-Leuchtkasten von 1997.
Info
Jeff Wall in München
07.11.2013 - 09.03.2014
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr in der Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, München
Einsam und unbehaust
Es handelt sich eher um Welten-Bilder, in denen der Mensch, mag er noch so klein sein, doch eine wichtige Rolle spielt. Oft sind Walls Protagonisten so einsam und unbehaust wie der junge Mann am Stadtrand von Istanbul – und wenn mehrere Menschen beisammen sind, brechen häufig Aggressionen aus wie im Bild „A Fight on the Sidewalk“ (1994).
Interview mit Jeff Wall + Impressionen der Ausstellung "Jeff Wall. Transit" 2010 im Lipsiusbau Dresden; © DW-TV
Dokumentarischer Anschein
Jeff Walls hinterleuchtete Foto-tableaux faszinieren nicht zuletzt, weil sie damit spielen, dass Fotografien, die lange als unverfälschtes Abbild der Realität galten, durch die Digitaltechnik zur perfekten Täuschung geworden sind. Sie erscheinen dokumentarisch; in Wirklichkeit werden sie vom Künstler bis ins Detail akribisch inszeniert – inklusive aufwändiger Lichtregie.
So wie „Eviction Struggle“ (Kampf gegen die Räumung) von 1988, das die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 1993 ankauften. Der Künstler überarbeitete es 2004; nun heißt es „An Eviction“. Die Hauptszene ist gleich geblieben: eine Dreiergruppe aus einem Polizisten, einem sich sträubenden Mann und einer Frau, die mit weit ausgestreckten Armen auf die Männer zustürzt.
Visuelle Vorort-Gentrifizierung
Doch Wall fügte digital weitere Figuren ein, die er verworfenen Original-Aufnahmen von damals entnahm: Nun sind mehr Gaffer zu sehen. Wirkte dieser Vorort von Vancouver 1988 trotz der Einfamilienhäuser noch wie eine ärmliche Gegend, fand mit der Überarbeitung eine visuelle Gentrifizierung statt.
Wall wurde 1946 im kanadischen Vancouver geboren, wo er Kunstgeschichte studierte, die er später in London lehrte. Die Tradition der Alten Meister in der Malerei setzt er in der Ästhetik des Kinos fort: Auf seinen Bilder sind jede Geste und jeder Gegenstand sorgsam gesetzt. So erzählen seine Szenarien, obgleich unbewegt, dennoch Geschichten.
Schwert steckt in Rodins Denker
Dabei bezieht sich Wall oft auf berühmte Kunstwerke, etwa mit der Aufnahme „Der Denker“ (1986), die an die gleichnamige Skulptur von Auguste Rodins Plastik angelehnt ist. Sie wirkt wie das Pendant zum jungen Dörfler am Rande Istanbuls: Ein alter Mann sitzt in Denkerpose vor der Stadtlandschaft; am Horizont sind die Hochhäuser im Zentrum zu erkennen.
Der Mann kommt augenscheinlich von außerhalb; irritierenderweise ragt hinter seiner Schulter der Griff eines Schwerts in die Höhe. Ob er es geschultert hat oder ob es ihm im Rücken steckt, ist nicht erkennbar; Mehrdeutigkeiten sind ebenfalls typisch für Jeff Wall.
Kindheits-Abschied mit Wackelpudding
Verschiedene Münchner Sammler haben unterschiedliche Vorlieben. Der Verleger Lothar Schirmer hegt eher ein Faible für Walls unspektakuläre, elegische Arbeiten wie „The Pine on the Corner“ (1990) oder den einsamen „Esel in Blackpool“ (1999).
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Ausweitung der Kampfzone: Die Sammlung 1968 – 2000" mit Werken von Jeff Wall in der Neuen Nationalgalerie in Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die Erschütterung der Sinne" mit Werken von Jeff Wall im Albertinum, Dresden
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Unheimliche Wirklichkeiten" über den US-Fotokünstler Gregory Crewdson im Museum Frieder Burda, Baden-Baden.
Schön schmutzige Seife
Die Zusammenschau all dieser Werke ergibt einen lohnenden Einblick in Jeff Walls Œuvre, aber an Wirkmacht gewinnen die Solitäre dadurch nicht. Jeder einzelne Leuchtkästen besticht durch technische Perfektion, klassische Proportionen, fein austarierte Beleuchtung und wohlüberlegte Ästhetik; so sieht selbst ein Stück schmutziger Seife auf einer schäbigen Küchenzeile fast schön aus.
Die spezielle Wall-Stimmung – ob einsam-melancholisch, latent aggressiv oder mitten in der Eskalation – wirkt immer wie die Ruhe vor einem noch schlimmeren Sturm: Sie lässt kaum einen Betrachter kalt. Dieser Eindruck nutzt sich angesichts mehrerer, thematisch ähnlicher Foto-Gemälde jedoch ab. Die perfektionistische Machart gerinnt fast zur Masche, bei der am Ende die Form über den Inhalt dominiert.