Harter Stoff für harte Zeiten: Dieser Film ist ein massiger Felsbrocken, den Regisseur Jia Zhangke in die Autorenkino-Landschaft wuchtet. Zwar höchst formbewusst inszeniert, doch zugleich so ungeschlacht und sperrig, dass man sich daran die Augen wund sieht. Was sich unbedingt lohnt, denn „A Touch of Sin“ zeigt etwas im Westen völlig Unbekanntes: China, wie es heute ist.
Info
A Touch of Sin
Regie: Jia Zhangke,
130 Min., China/Japan 2013;
mit: Zhao Tao, Jiang Wu, Wang Baoquiang, Luo Lanshan
Nur Geld zählt
Dieser rechtlose Zustand eines Halsabschneider-Kapitalismus führt zu endemischer Gewalt, so Regisseur Jia: Nur Geld zählt, alle sozialen Bindungen verkümmern, alle Gefühle sterben ab – außer den destruktiven. Gedemütigte Habenichtse, die ihre Mitmenschen nicht kaufen oder schmieren können, schlagen mit brutaler Gewalt zurück.
Offizieller Filmtrailer
Überall ist es staubig, trist + unwirtlich
Diese Generalthese handelt Jia in vier Episoden ab, die auf realen Vorfällen basieren. Sie spielen in vier verschiedenen Provinzen, vom hohen Norden bis zum tiefen Süden, um ein Panorama des ganzen Landes zu bieten. Abgesehen von wechselnder Vegetation erkennt man das kaum: Überall sieht es ähnlich staubig, trist und unwirtlich aus.
In einer Industriestadt protestiert der Minenarbeiter Dahai (Jiang Wu) gegen seinen früheren Klassenkameraden Jiao, der nun als Multimillionär im Privat-Jet reist: Er habe sich die örtliche Kohlegrube illegal angeeignet. Dahai will nach Peking reisen, um Beschwerde einzulegen; Jiaos Schergen schlagen ihn zusammen. Da greift Dahai zum Jagdgewehr.
Empfangsdame wird zur Furie
Auch der vagabundierende Zhou San (Wang Baoquiang) schießt virtuos: etwa, wenn ihm auf seinem Motorrad Wegelagerer die Straße versperren. Kehrt er aber besuchsweise zu Frau, Sohn und Mutter zurück, wollen die nichts von ihm wissen – ebenso wenig von seinem Geld.
Xiao Yu (Zhao Tao) hofft vergeblich, dass ihr verheirateter Geliebter sich endlich von seiner Frau trennt. Sie versucht einen Neustart als Empfangsdame in einem Bordell, das als Sauna getarnt ist. Als zwei Kunden zudringlich werden, wird sie zur mit Klingen wirbelnden Furie.
Fenstersturz eines Hotel-Kellners
Der Fabrikarbeiter Xiao Hui (Luo Lanshan) soll für den Arbeitsunfall eines Kollegen gerade stehen. Er flieht und heuert in einem Luxus-Hotel an; hier beglücken Animierdamen die Gäste mit exotisch-erotischen Dienstleistungen. Unglücklich verliebt und von Anrufen seiner Mutter gepeinigt, er solle mehr Geld nach Hause überweisen, stürzt er sich aus dem Fenster.
Die vier Episoden sind unterschiedlich überzeugend umgesetzt: So erklärt Störenfried Dahai anschaulich, wie in der Provinz Lokalgrößen sich Produktionsbetriebe unter den Nagel reißen. Dagegen fällt die Verwandlung der harmlosen Xiao Yu in eine rasende Messerstecherin arg überraschend aus. Auch der schießwütige Vagabund Zhou San erscheint recht konstruiert.
„Ich schlag Dich tot mit meinem Geld!“
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier einen Beitrag über den Film "A Touch of Zen" - legendärer Kampfkunst-Klassiker (1971) aus Taiwan von King Hu
und hier eine Besprechung des Films "Venezianische Freundschaft" - sino-italienisches Einwanderer-Drama mit Zhao Tao von Andrea Segre
und hier einen Bericht über den Film "Drachenmädchen" - Doku über den Drill an Chinas größter Kampfkunst-Schule von Inigo Westmeier
und hier eine Rezension über die Video-Installation "Ten Thousand Waves" von Isaac Julien mit Zhao Tao im Museum Brandhorst, München.
Viel grotesker wirken etliche Details. Von der dekadenten Opulenz der Shows im leisure resort, in dem Xiao Hui kellnert, könnten japanische love hotels noch einiges abkupfern: Mal präsentiert das weibliche Personal seine Reize als Rotgardistinnen verkleidet, mal locken sie als mythologische Fabelwesen. Und ein Sauna-Gast, der Xiao Yu an die Wäsche will, drischt mit einem Banknoten-Bündel auf sie ein: „Ich schlag Dich tot mit meinem Geld!“.
Bilder von umwerfender Wucht
Wie in einem Brechtschen Lehrstück ist alles maßlos verzerrt und entstellt, auf dass es um so kenntlicher werde. Vermutlich ist diese Brachial-Ästhetik dem chinesischen Publikum viel zu grob; wo es doch nichts mehr fürchtet, als das Gesicht zu verlieren.
Doch für westliche Betrachter, denen Pekings Zensur erfolgreich authentische Zeugnisse der sozialen Umwälzungen im Land vorenthält, haben diese Bilder eine Wucht, die einen umhaut. Wenn die landesweite Verrohung und Brutalisierung auch nur teilweise zutrifft, die Regisseur Jia diagnostiziert, dann verödet China derzeit offenbar zur emotionalen Wüste.