
Der alte Mann und das Meer: Das war in Hemingways gleichnamiger Novelle von 1952 noch der Kampf eines kubanischen Fischers mit einem riesigen Fisch. Im Film von JC Chandor ist der Held ohne Gegenspieler: Auf seiner Hochsee-Yacht trotzt Robert Redford allein der Gewalt der Elemente.
Schweigend, versteht sich; mit wem sollte er auch reden? „All is lost“ dürfte der wortkargste Tonfilm aller Zeiten sein: Außer zu Beginn beim Vorlesen einer Flaschenpost-Botschaft aus dem Off ist Redfords Stimme nur ein einziges Mal zu hören. Da schreit er aus tiefstem Entsetzen ein four letter word – als seine letzte Trinkwasser-Reserve brackig geworden ist.
Zweiter Extremfilm des Regisseurs
Chandors zweite Regie-Arbeit ist abermals ein Film der Extreme. Sein Debüt „Der große Crash – Margin Call“ war es auf umgekehrte Weise: Darin palavert ein Rudel Investment-Banker eine Nacht lang darüber, wie sie beim Ausbruch der Finanzkrise 2008 ihre Milliarden und ihren Hals retten können. Am Ende dieser brillanten Dialog-Orgie steht bei Morgengrauen die Weltwirtschaft vor dem Abgrund; und der Zuschauer hat begriffen, warum.
Offizieller Filmtrailer
Hochsee-Kollision mit Container
In „All is lost“ gibt es nichts zu verstehen: Sturm, Gewitter und tobende See sind einfach da und akustisch ständig präsent. Das Prasseln von Regen und Gischt, das Heulen des Windes und das bedrohliche Gurgeln von Wasser, das ins Boot eindringt, füllen die Tonspur; oder gemächliches Glucksen, wenn sich der Sturm legt und der Skipper kurz verschnaufen kann. Die Natur verschafft sich andauernd Gehör, stellenweise kurz von Musik unterlegt.
Die Ausgangssituation ist einfach: Während die Yacht über den Indischen Ozean segelt, rammt sie einen im Wasser treibenden Frachtcontainer. Die Kollision reißt ein Leck in die Bordwand, das der erfahrene Segler provisorisch flicken kann. Dem aufziehenden Sturm hält das Boot aber nicht mehr stand. Es kentert, der Mast bricht, dann läuft es voll und säuft ab.
Frachtschiff ignoriert Schiffbrüchigen
Redford hat sich rechtzeitig in ein Schlauchboot gerettet. Damit treibt er langsam in die internationale Wasserstraße zwischen Madagaskar und Sumatra hinein. Endlich erscheint am Horizont ein riesiges Frachtschiff: Mit Hunderten von Containern vollgepackt, wirkt es wie eine schwimmende Festung.
Der Schiffbrüchige macht mit bengalischem Feuer und Leuchtmunition auf sich aufmerksam. Doch der Frachter gleitet vorbei: Sieht seine Besatzung ihn nicht? Oder ignoriert sie ihn zynisch, weil ein zeitaufwändiges Bergungsmanöver ihren Fahrplan durcheinander bringen würde? Der Mann wird es nie erfahren – ebenso wenig wie afrikanische Flüchtlinge, die im Mittelmeer treiben.
Kamera taumelt durch Kajüte
Bis dahin hat der Segler alle Gefahren gefasst gemeistert. Bei jedem Rückschlag reagiert er wie ein moderner Hiob mit eiserner Disziplin, um das Schlimmste zu verhindern; es gelingt ihm sogar, das gekenterte Schlauchboot wieder aufzurichten. Doch allmählich werden seine Optionen immer weniger; stumme Verzweiflung steht ihm ins wettergegerbte Gesicht geschrieben.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseur J.C. Chandor über "All Is Lost"
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Kein US-Autorenkino ohne Redford
Dass diese quasi dokumentarische Beobachtung eines Seemanns bei seinem tristen Tagwerk keine Sekunde langweilig wird, ist fast ein kleines Naturwunder. Nach nur zwei Spielfilmen erscheint Regisseur Chandor als Universaltalent, das jeden noch so spröden Stoff packend aufbereiten kann.
Wenn jemand wie Robert Redford mitspielt: Wer könnte dieses Heldenepos vom einsamen Überlebenskampf glaubwürdiger verkörpern als er? Er hat sich stets vom Hollywood-System ferngehalten. Mit dem 1981 gegründeten Sundance Institute und dem vier Jahre später etablierten Sundance Film Festival hat Redford unabhängige US-Filmemacher gefördert wie kein anderer. Ohne ihn gäbe es das heutige amerikanische Autorenkino nicht ansatzweise.
Uramerikanische Pionier-Tugend
Allein gegen das Establishment: Chandors Film gleicht beinahe einer Parabel auf Redfords Biographie. Dazu gehört eine uramerikanische Tugend seit Pionier-Tagen: Niemals aufgeben, solange noch Leben in den Gliedern zuckt, auch wenn die Chancen noch so klein sind. Denn alles ist besser als das stille Grab am Meeresgrund: It ain’t over ‚til it’s over.