Sein Hauptwerk fehlt. Das sieben mal fünf Meter große „Floß der Medusa“ ist für alle Zeiten im Louvre vor Anker gegangen. Doch die Schirn zeigt in der ersten deutschen Einzelausstellung von Théodore Géricault (1791-1824) überhaupt zahlreiche Entwürfe und Einzelstudien zu diesem Meisterwerk. Sie machen deutlich, warum die Pariser vor fast 200 Jahren davon begeistert und entsetzt waren.
Info
Géricault. Bilder auf Leben und Tod
18.10.2013 - 26.01.2014
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 22 Uhr
in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt/ Main
Katalog 29,80 €
Nach einer Woche nur 15 Überlebende
Beiboote sollten es an Land ziehen, doch die kappten die Seile. Unter stechender Tropensonne kam es auf dem steuerlos treibenden Floß zu Kannibalismus; eine Woche später konnten nur noch 15 Überlebende geborgen werden. Als das in Frankreich bekannt wurde, mussten der Marine-Minister und 200 Offiziere gehen.
Impressionen der Ausstellung
Schockieren mit allen Stadien der Agonie
Géricault wusste, wie skandalträchtig sein Sujet war. Er arrangierte die Personen auf seinem – mit viel zu kurzen Planken, Mast und Segel frei erfundenen – Floß zu einer Dreiecks-Komposition: An der Spitze steht ein Dunkelhäutiger und winkt dem ersehnten Rettungs-Schiff zu. Die übrigen Schiffbrüchigen stellte er in allen Stadien der Agonie dar. Das schockierte das Publikum: Manche protestierten gegen diese Drastik, andere lobten ihre Realitätsnähe.
Zwar wurde „Das Floß der Medusa“ prämiert, aber nicht angekauft; dennoch konnte Géricault diesen Erfolg versilbern. Um es zu sehen, zahlten in London 40.000 Neugierige Eintritt; danach wurde es in Dublin vorgeführt. Das Gemälde machte Géricault europaweit bekannt. Auf die Tantiemen war er nicht angewiesen: Er hatte seine Mutter und Großmutter beerbt und war materiell unabhängig.
Liebesaffäre mit eigener Tante
Der Sohn eines Rechtsanwalts und Fabrikanten führte in Paris eine ziemlich extravagante Künstler- und Bohemien-Existenz. Vom Dienst in Napoleons Armee hatte ihn sein Vater freigekauft; nach der Restauration trat er mit 23 Jahren kurzzeitig in das königliche Militär ein. Eine einjährige Italienreise finanzierte er aus eigener Tasche.
Nach seiner Rückkehr bändelte er wieder mit seiner nur sechs Jahre älteren Tante an. Als sie von ihm ein Kind bekam, wurden beide für immer getrennt und das Neugeborene zur Adoption weggegeben. Wenig später verfiel Géricault in mehrfach wiederkehrende Depressionen. Überdies war er leidenschaftlicher Reiter, der Pferde auch häufig zeichnete und malte. An den Spätfolgen dreier Reitunfälle sollte 1824 mit nur 33 Jahren sterben.
Realismus-Vorläufer anstatt Romantiker
Also nach den Maßstäben des frühen 19. Jahrhunderts ein Leben auf der Überholspur. Das und sein früher Tod ließen ihn, neben seinem Freund Eugène Delacroix, zum Inbegriff des romantischen Künstlers in Frankreich werden: Dort war die Malerei der Romantik – anders als in Deutschland – nicht von stimmungsvoller Innerlichkeit, sondern wild bewegtem Pathos geprägt.
Das scheint das „Floß der Medusa“ zu bestätigen: Wie bei Delacroix‘ großen Jagd- und Massen-Szenen winden sich Leiber in allen Richtungen; sie breiten mit ihren Gesten ein Panoptikum der Leidenschaften aus. Doch die Schirn plädiert überzeugend für eine Neubewertung: Géricault weniger als Romantiker und stattdessen mehr als Vorläufer der Realisten zu begreifen.
Leben ist ein steter Kampf
Dazu stellt sie 62 Werken – meist kleinformatige Gemälde oder Zeichnungen – Arbeiten seiner Zeitgenossen gegenüber; etwa von Goya, Adolph Menzel, Horace Vernet und natürlich Delacroix, aber auch von Medizinern und den ersten Fotografen. Deutlich wird, dass Géricault alle denkbaren Gemütszustände im Bild erfassen wollte und dabei vor nichts zurückschreckte. Er malte Leichenteile und Schädel mit derselben anatomischen Präzision wie Porträts; eben „Bilder auf Leben und Tod“.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst" - mit Werken von Théodore Géricault im Städel Museum, Frankfurt
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Daumier ist ungeheuer!" - grandioser Überblick über das Gesamtwerk von Honoré Daumier im Max Liebermann Haus, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Constable, Delacroix, Friedrich, Goya: Die Erschütterung der Sinne” in der Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Napoleon und Europa – Traum und Trauma“ – in der Bundeskunsthalle, Bonn.
Individuelle Geisteskranken-Porträts
Etwa auf vier großformatigen Darstellungen von Geisteskranken, die im Pariser Hôpital de la Salpêtrière entstanden; Géricault hatte zehn derartige Bildnisse angefertigt, von denen noch fünf erhalten sind. Alle zeigen „Monomanen“: Man schrieb ihnen die Fixierung auf eine wahnsinnige Handlungsweise zu; wie Kindsraub, Diebstahl, Glücksspiel oder Neid.
Die Patienten schauen mit leerem bis wirren Blick am Betrachter vorbei; sie sind ärmlich gekleidet und vernachlässigt. Doch der Künstler porträtiert sie wirklich: Er verleiht ihnen echte Individualität, indem er in ihrem Antlitz das Persönliche herausarbeitet, anstatt auf herkömmliche Bildformeln für Wahnsinn zurückzugreifen.
Progressiver Weltverbesserer
Solch aufwändiges Bemühen um Gestalten, die am Rand der Gesellschaft stehen: Das war radikal neu. Mit Mitteln der Malerei beteiligte sich Géricault am Bestreben, psychische Krankheiten zu erforschen und sozialreformerisch zur Änderung der Verhältnisse beizutragen. Der Künstler als Progressiver, der die Welt verbessern will: Damit hatte er im 19. und 20. Jahrhundert zahllose Nachfolger.