64. Berlinale

Atmosphäre nur in der Warteschlange

Das Team des Gewinner-Films "Black Coal, Thin Ice" vor der Preisverleihung im Berlinale-Palast. Foto: Berlinaleng
Highlight des Hauptstadt-Marketings: Die 64. Berlinale war größer, werbeträchtiger und überlaufener denn je. Nur die Orientierung ist ihr völlig abhanden gekommen: Das zeigen die Preisvergabe ebenso drastisch wie die Programme der Sektionen.

Der aktuelle Trend ist, dass es keinen Trend mehr gibt. Normalerweise zählt zu den Pflichtübungen von Kritikern, bei Festivals Tendenzen aufzuspüren: vorab in der Auswahl des Wettbewerbs-Programms, danach unter den prämierten Filmen. Aber wie soll man in der Liste der Preisträger der 64. Berlinale irgendeinen roten Faden ausmachen?

 

Info

 

64. Berlinale

 

06. – 16.02.2014
in diversen Spielstätten, Berlin

 

Website des Festivals

 

Mit dem Goldenen Bären wurde „Black Coal, Thin Ice“ von Diao Yinan aus China ausgezeichnet: ein stilbewusst inszenierter, mit Gewalt gesättigter film noir über eine Kleinstadt-Mordserie. Für Hauptdarsteller Liao Fan gab es obendrein einen Silbernen Bären.

 

Liebenswert aus der Zeit gefallen

 

Sein Gegenstück für die beste Hauptdarstellerin ging an Haru Kuroki; sie spielt im Melodram „The Little House“ das fügsame Hausmädchen einer japanischen Mittelklasse-Familie im Zweiten Weltkrieg. Das sensibel arrangierte Sittenbild des 82-jährigen Altmeisters Yoji Yamada wirkt anrührend betulich und liebenswert aus der Zeit gefallen.

Trailer des Gewinner-Films "Feuerwerk am hellichten Tage/ Black Coal, Thin Ice"


 

91-Jähriger mit neuen Perspektiven

 

Von den beiden weiteren Wettbewerbs-Beiträgen aus China wurde „Blind Massage“ von Lou Ye für die beste Kamera prämiert. Doch ergibt das einen Ostasien-Trend? Ausgerechnet der älteste Teilnehmer, der 91-jährige Alain Resnais, bekam den Silbernen Bären „für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“ – mit „Aimer, boire et chanter“ nach einem Stück von Alan Ayckbourn. Die Quasselstrippen-Komödie fiel bei den meisten Kritikern durch.

 

Dagegen musste sich Richard Linklater für seine zwölf Jahre dauernde Familien-Beobachtung „Boyhood“, den die Kritik einmütig feierte, mit dem Silbernen Bären für die beste Regie zufrieden geben. Ebenso Dietrich Brüggemann für das beste Drehbuch zu „Kreuzweg“ über eine selbstzerstörerisch fromme 14-Jährige. Das Drama war teils gelobt, teils verrissen worden.

 

Nur noch die Devise: Mehr ist besser!

 

Das passt ins Klischee von der Berlinale als Problemfilm-Podium. Doch mit dem „Großen Preis der Jury“ wurde das glatte Gegenteil bedacht: „Grand Budapest Hotel“ von Wes Anderson ist pures Konfetti-Kino; ein bonbonbunter Bilderbogen für Kinder von acht bis 80, so detailverliebt arrangiert wie folgenlos durchgeblättert.

 

Eine Ausrichtung ist in den Entscheidungen der Jury nicht auszumachen. Wie bei der gesamten Berlinale; sie hat jeden Anspruch aufgegeben, Schneisen der Orientierung durch das Dickicht der weltweiten Filmproduktion zu schlagen, um Relevantes von Überflüssigem und Erst- von Nachrangigem zu unterscheiden. Stattdessen verbreitet sie nur noch die Devise: Mehr ist besser!

 

Filmreihen vermehren sich wie streaming-Portale

 

Das Festival frönt der Logik grenzenlosen Wachstums. Mehr Filme – 409 waren es diesmal. Mehr verkaufte Karten: in diesem Jahr 330.000, zehn Prozent mehr als 2013. Mehr Stars auf dem roten Teppich für mehr Gratis-PR in der Presse, um den Kartenabsatz anzukurbeln. Mehr Abspielstätten: diesmal der frisch renovierte Zoo-Palast. Von den Umsätzen im European Film Market, Hotellerie und Gastronomie nicht zu reden.

 

Auch die Filmreihen vermehren sich wie streaming-Portale. Allein unter Direktor Dieter Kosslick kamen seit 2001 hinzu: die „Perspektive Deutsches Kino“ für heimische Jungfilmer, „Berlinale Shorts“ für Kurzfilme, „Berlinale Special“ für glamouröse Großproduktionen, das „Forum Expanded“ für mit Film arbeitende Künstler, „Berlinale Talents“ als Workshop-Reihe für den Nachwuchs, „Berlinale goes Kiez“, um Publikum in abgelegene Programmkinos zu locken, und „Kulinarisches Kino“ als watch & dine show mit Starköchen für solvente Gourmets – die Leib-und-Magen-Kreation des vegetarischen Schlemmers Kosslick.

 

Indigene Sonderreihe mit zwei Filmen

 

Ihn stört nicht, dass diese Inflation von Sektionen absurde Züge annimmt; etwa bei der 2013 eingeführten Sonderreihe „NATIVe“ für „filmische Erzählungen indigener Völker“. Die sind offenbar so rar, dass sich die Reihe schon ein Jahr später auf zwei Filme beschränkt: „Birdwatchers“ aus Brasilien von 2008 und „Utu“ aus Neuseeland von 1983. Kein gutes Omen: Nicht für jede Minderheit lässt sich mit Gutmenschen-Gestus die passende Sektion schneidern.

 

Oder sie sind in regulären Reihen völlig überrepräsentiert: Im „Panorama“, laut Berlinale „ein Ausblick auf die Tendenzen des Arthouse-Kinos“, behandelte etwa jeder vierte Film schwullesbische Themen – obwohl die Zielgruppe weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht. Doch Tradition verpflichtet: Gründer Manfred Salzgeber war ebenso Gay-Aktivist wie sein Nachfolger Wieland Speck.