64. Berlinale

Atmosphäre nur in der Warteschlange

Mu Huaipeng und Huang Lu, Hauptdarsteller in "Blind Massage", im Berlinale VIP-Club. Foto: Berlinale
Highlight des Hauptstadt-Marketings: Die 64. Berlinale war größer, werbeträchtiger und überlaufener denn je. Nur die Orientierung ist ihr völlig abhanden gekommen: Das zeigen die Preisvergabe ebenso drastisch wie die Programme der Sektionen.

 

Implantate spritzende Transe in Manila

 

Beide stifteten für solche Filme 1987 den „Teddy Award“. Der braucht genügend Anwärter, und seien sie noch so abseitig: wie eine Doku über eine Implantate spritzende Transe in Manila oder über die Geschichte der Schwulen in Italien seit dem Faschismus. Dass ihr Schwerpunkt auf „queeren“ Themen längst kein Alleinstellungsmerkmal der Berlinale mehr ist, ficht sie nicht an.

 

Solche Absonderlichkeiten erklärt ein Blick auf die Macher der wichtigen Sektionen. Den jährlichen Bilderrausch verantworten wenige Personen: Wieland Speck ist seit 32 Jahren dabei, davon 22 Jahre als „Panorama“-Leiter. Christoph Terhechte arbeitet seit 17 Jahren für das „Forum“, davon 13 Jahre als Leiter.

 

Kritik weggrinsen + aussitzen wie Wowereit

 

Rainer Rother wählt seit 13 Jahren Wettbewerbs-Filme aus; seit acht Jahren leitet er die Retrospektive. In diesem Veteranen-Zirkel ist Direktor Kosslick, dessen Vertrag 2016 endet, fast ein Frischling. Vermutlich wird er verlängern, um mit seinem Vorgänger gleichzuziehen: Moritz de Hadeln amtierte 21 Jahre lang.

 

Diese Altgedienten reiten unbeirrbar ihre Steckenpferde, obwohl das Feuilleton alljährlich am Festival herummäkelt. Doch Kritik von außen perlt an ihnen ab; warum auch nicht? Als Regierender Bürgermeister macht Klaus Wowereit ja vor, wie man Pannen und ziellose Stagnation einfach weggrinsen und aussitzen kann, solange Touristen herbeiströmen und der Rubel rollt.

 

Ins programmatische Nirgendwo steuern

 

Da hülfe vermutlich nur ein Komplett-Austausch der Führungsriege. Doch anders als das Wahlvolk kann das Kinopublikum die Berlinale-Leitung nicht entmachten. So dürfte sie weiter wie eine Behörde agieren: Mögen Kritiker schimpfen, die Kommissionen planen wie gewohnt. Auch wenn sie dabei ins programmatische Nirgendwo steuern.

 

Von der 2013 vollmundig ausgerufenen Renaissance des osteuropäischen Films blieb diesmal fast nichts übrig. Aus Lateinamerika kamen in den Hauptreihen nur fünf Filme. Selbst in Ostasien wurden wichtige Nationen übergangen: weder ein Beitrag aus Thailand noch aus Indonesien. Sieht so ein kompetenter Überblick über das Weltkino aus?

 

Festival kennt keine digitalen Lebenswelten

 

Zumal die Berlinale nicht nur ganze Regionen ignoriert, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen. Kein einziger Beitrag beschäftigte sich mit digitalen Lebenswelten, die selbst im Kommerzkino längst angekommen sind: allein im letzten halben Jahr mit einer Doku und einem Spielfilm über Wikileaks sowie dem Cyber-Thriller „Disconnect“.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Panorama-Leiter Wieland Speck über das Programm der 64. Berlinale 2014

 

und hier ein Interview mit Direktor Dieter Kosslick über das Programm der 63. Berlinale 2013

 

und hier die Bilanz "Berlinale goes worldwide" der 62. Internationalen Filmfestspiele 2012.

 

Mediale Beschleunigung kontert das Festival mit weiten Wegen. Das westlichste Kino „Delphi“ trennt rund zehn Kilometer vom östlichsten „Colosseum“; dazwischen verstreut liegen elf weitere Abspielstätten. Durch das halbe Stadtgebiet eilend, kommt beim Publikum kaum Festival-Atmosphäre auf; wo wäre ein zentraler Versammlungsort für Austausch und Reflexion?

 

Kollektiv-Zwang zum Warten

 

Dem begegnet die Berlinale mit dem Kollektiv-Zwang zum Warten. Es gibt nur drei Vorverkaufsstellen, die höchstens drei Tage im Voraus zwei Karten pro Person abgeben. Zwar kann man seit wenigen Jahren im Internet Tickets kaufen und neuerdings – Gipfel der Innovation – auch zuhause ausdrucken, doch das Online-Kontingent ist stark begrenzt; der Rest geht über herkömmliche Kassen. Offizielle Begründung: um Schwarzmarkt zu verhindern.

 

Das ließe sich auch anders regeln. Der Sinn dieses Anno-Tobak-Verfahrens ist ein anderer: Nur beim stundenlangen Schlangestehen erleben sich Hunderttausende von Kinogängern als Festspiel-Publikum. Nur ihr gespanntes Starren auf Anzeigetafeln, ob der gewünschte Film schon ausverkauft ist, verschafft ihnen noch ein Gemeinschafts-Gefühl – und der Berlinale-Leitung die nötige Legitimation. Mehr ist vom Festival-Erlebnis in diesem gigantischen Rummel der Beliebigkeit nicht mehr übrig.