Lars von Trier

Nymph( )maniac – Teil 1

Joe (Stacy Martin) gibt sich mit ihrem Geliebten Jerôme (Shia LaBeouf) der Lust hin. Foto: © Concorde Filmverleih
(Kinostart: 20.2.) Weder Porno-Epos noch Melancholie-Beschwörung: Lars von Trier unterläuft mit seinem Episodenfilm über eine Nymphomanin alle zuvor geschickt geschürten Erwartungen. Stattdessen gibt er sich seinem zügellosen Spieltrieb hin.

Spielen wir mit der Matrjoschka, Sie wissen schon: der mit Puppen gefüllten Puppe. Und fangen wir einfach mit der größten an:

 

1. Lars von Trier

 

Fast drei Jahre ist es her, dass sich der Meister der Neurosen, Obsessionen und Skandale im Mai 2011 beim Filmfestival von Cannes während einer Pressekonferenz vom Teufel reiten ließ: „Okay, ich bin ein Nazi.“ Seither hat er sich ein Schweigegelübde auferlegt, nur noch indirekt vernehmen lassen – und ist dabei immer größer und bedeutender geworden.

 

Info

 

Nymph()maniac - Teil 1

 

Regie: Lars von Trier,

118 Min., Dänemark/ Deutschland/ Frankreich 2013;

mit: Charlotte Gainsbourg, Shia LaBeouf, Stellan Skarsgård, Stacy Martin

 

Website zum Film

 

Vor allem seine Schauspieler rühmen und interpretieren ihn. Charlotte Gainsbourg fragt sich, warum sie nach „Antichrist“ und „Melancholia“ nun schon den dritten Film mit einem Mann gedreht hat, den Björk und Nicole Kidman nicht mehr sehen wollen.

 

Drohung mit schlaffem Penis

 

Stellan Skarsgård erzählt den absurden Telefon-Dialog, in dem Lars von Trier ihm die Hauptrolle in einem Porno anbietet. Der Schwede bleibt hartnäckig bei seiner Zusage; auch als der Anrufer droht, Skarsgårds schlaffen Penis zu zeigen.

 

Jeder Schauspieler spricht von seinem uneingeschränkten Vertrauen in Können, Kreativität und Genie dieses Ausnahme-Regisseurs. Und davon, wie von Trier in all seinen Filmen immer nur von sich selbst spricht. Er ist die größte aller Puppen und enthält sie alle; je schweigsamer, desto sicherer. Natürlich geht das Publikum in seinen neuen Film.


Offizieller Filmtrailer


 

2. Die Figuren

 

Die Rahmenhandlung ist ein Kammerspiel. Nachdem Seligman (Stellan Skarsgård) die zusammengeschlagene Joe (Charlotte Gainsbourg) in einem kalten, schneeverstöberten Hinterhof gefunden und mit zu sich nach Hause genommen hat, erzählt sie ihm Tee trinkend von ihrem Leben in Sünde.

 

Seligman protestiert zurecht gegen diesen erbarmungslosesten Begriff des Christentums und bietet stattdessen die nüchterne Interpretations-Folie des Fliegenfischens an. Damit sind die Spielregeln festgelegt: Sie gibt das gefallene, reuige Mädchen, er sucht den Exkurs. Und: Gegen seine Theorien setzt sie die Praxis.

 

Nägel zuerst links oder rechts schneiden

 

Als Seligman die Menschheit in zwei Gruppen einteilt, die – je nachdem, ob sie erst die Nägel ihrer linken oder ihrer rechten Hand schneiden – erst den leichten oder erst den schweren Weg wählen, weist Joe ihm nach, dass nach der leichten Lösung mit der linken Hand wiederum nur der dann leichteste Weg übrig bleibt: Nun muss man die Nägel der rechten Hand schneiden.

 

Es gibt keine Wahl, nur Opportunitäten; das ist ihr Leben. Und Seligman lässt sich darauf ein. Auf das Erwachen ihrer Sexualität mit zwei Jahren und die Defloration mit 15 durch Jerôme (Shia LaBeouf), der ihr später immer wieder über den Weg laufen wird.

 

Girlie-Verführungs-Wettbewerb im Zug

 

Auf einen Wettbewerb, den sie als Girlie mit ihrer ebenfalls nymphomanischen Freundin austrägt: Wer bringt auf einer Zugfahrt die meisten Akte mit reisenden Männern zustande? Oder auf die Schwierigkeiten, die Besuche von bis zu zehn Sexpartnern pro Nacht zu koordinieren. Man merkt: An all diesen Schwanzträgern ist nichts gelegen. Wir können zur dritten Puppe übergehen.

 

3. Sex

 

Natürlich ist das kein Porno; zumindest nicht in der um etwa eine halbe Stunde gekürzten Kino-Fassung – die Langversion soll mehr Sexszenen enthalten. Wobei es auch hier explizite Stellen gibt: etwa einen blow job im Männerschoß. Einen Vollbart, tief vergraben in einer Möse. Titten, Beine, verzerrte Gesichter.

 

Doch symptomatisch ist eine Galerie schlaffer Schwänze – als anatomische Studie der Unerregbarkeit. Diesen Film wird mutmaßlich kein einziger Zuschauer mit Druck in der Lendengegend oder Feuchtigkeit zwischen den Beinen ansehen. Sex geschieht hier wie Essen mit mäßigem Appetit oder ein Gang aufs Klo: Man erledigt etwas oder bringt es weg.

 

Filmplakat als Orgasmus-Collage

 

Man sitzt oben oder lässt sich vögeln – aber so willenlos und müde, wie Stacy Martin als jüngere Joe durch den Film streunt, kann definitiv keine Lust entstehen. Das Erotischste ist noch der Marketing-Gag, auf dem Filmplakat die lustverzerrten Gesichter aller Schauspieler zu einer Orgasmus-Collage zusammenzufügen. Dieses Versprechen wird aber nirgendwo eingelöst. Ein Nymphomanin hat keinen Spaß.

 

4. Melancholie

 

Womit wir bei der vierten Puppe und bei Lars von Triers Generalthema wären: Melancholie. Auch „Nymphomaniac“ bietet keine Hoffnung: nur Brutalität, Kälte, Fremdheit, Teilnahmslosigkeit. Keine Lust, keinen Genuss und keinen Aufstieg; nur Niedergang, Verlorenheit und trübe Aussichten. Mehr ist darüber nicht zu sagen.

 

5. Witz und Schönheit

 

Und doch, inmitten der Schwärze finden wir Poesie. Schon in der Anfangssequenz: Auf dem düsteren Hinterhof, in den Blut tropft, sind die Mauersteine in Großaufnahme betörend schön. Das Prasseln der Regentropfen auf einem Blechdeckel: Was für ein Klang, wenn man richtig hinhört – der Film lässt einem viel Zeit dazu.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Nymphomaniac Teil 2″ von Lars von Trier mit Charlotte Gainsbourg

 

und hier ein Interview mit Charlotte Gainsbourg: “Ich war für anstößigen Sex zuständig” über den Film "Nymphomaniac"

 

und hier eine Besprechung des Weltuntergangs-Epos Melancholia von Lars von Trier mit Charlotte Gainsbourg.

 

Dann das Rauschen im Blattwerk der Esche; des schönsten Baumes der Welt, auf den alle anderen Bäume im Wald neidisch sind – erzählt zumindest Joes Papa (Christian Slater). Später ein optischer Witz, der sich aus absurder Distanz ergibt: Während Joe sich entjungfern lässt, wird ein Zählwerk eingeblendet. Es registriert drei vaginale und fünf anale Penetrationen; diese Reihe so genannter Fibonacci-Zahlen wird hinterher weiter erkundet.

 

Leinwand bebildert das Gesagte

 

Zudem eine scheinplausible Schnitttechnik, die jede Wendung von Joes Erzählung didaktisch bebildert: Spricht sie von einer Katze, erscheint sofort ihr Bild; ist von einem Leoparden die Rede, läuft der mittels split screen quer über die Leinwand. Ähnlich führt Seligman neue Motive ein: Männerfängerei parallelisiert er mit dem Fliegenfischen, Polyandrie mit musikalischer Polyphonie samt Cantus Firmus.

 

Dabei ist von Trier ganz bei sich und ganz Mensch, weil er spielt. Er vertreibt sich und uns die Zeit – trotz der langweiligen Menschen und ihrer langweiligen Verbindung via Kopulation. Er findet sein Paradies in der Abschweifung, der Assoziation, im plötzlichen Einfall.

 

Mehr Spiel als Melancholie

 

Nimmt man noch die dichten und mit Lust ausgespielten Dialoge hinzu, wird klar, warum die schönsten Akzente dieses Films sich erst in der letzten und kleinsten Puppe befinden: Sie wird zuerst gefertigt, und alles andere um sie herum. Von Triers schöpferischer Ausgangspunkt ist nicht mehr die Melancholie, sondern das Spiel. Wir freuen uns auf den zweiten Teil.