Kino als Drehbühne für das Auge Gottes
Wie die aussehen, zeigt anschaulich eine Ausstellung im Deutschen Filmmuseum, die ihren Aktualitäts-Anspruch schon im Titel trägt. Sie verknüpft eine komprimierte Best of-Sichtung von Fassbinders Nachlass mit einer tour d’horizon durch Video-Arbeiten von sieben Künstlern, die für ihn typische Motive oder Stilmittel übernehmen.
Welche das sind, führen sieben Stationen mustergültig vor: mit Kompilationen kurzer Szenen aus Fassbinder-Filmen, die je ein Merkmal einprägsam vor Augen stellen. Etwa 360-Grad-Drehungen, mit denen die Kamera Paare umkreist: Ihr Wechselspiel von Blickkontakt und Wegsehen, Hin- und Abwendung erfasst die Linse vollständiger als jeder Beobachter. Kino als Drehbühne für das Auge Gottes.
In Rahmen + Spiegel gefangen
Häufiger rückt Fassbinder dagegen Barrieren ins Blickfeld. Er filmt Schauspieler durch Treppenstufen und Gitter, postiert sie in Türrahmen und vor Spiegel, die ihr Antlitz mehrfach reflektieren: Offensichtlicher könnten Gefangensein und gebrochene Identität kaum sein. Zusätzlich isoliert durch extrem künstliche Beleuchtung: Schlaglichter in grellen Farben exponieren die Gestalten oder einzelne Körperteile.
Beziehungen als Grundproblem
Oft im Rotlichtmilieu: Fassbinders Protagonisten flüchten gern in die schummrige Welt der Varietés und Bordelle. Dass deren Verlockungen trügerisch sind, machen schräge Darbietungen halbseidener Diseusen deutlich; Melodram als schäbiger Maskenball. Solche Verfremdungseffekte übernahm Fassbinder, der 1967 als Theatermacher angefangen hatte, von Bertolt Brecht; dessen „episches Theater“ blieb trotz des Baal-Desasters stets ein wichtiger Bezugspunkt seiner Regie-Praxis.
Brechts marxistisch inspirierten Utopien konnte Fassbinder jedoch wenig abgewinnen: Für ihn sind Familie oder Freundschaft keine Rückzugsorte, sondern alle Verbindungen durch Neid, Gier und Rivalität heillos korrumpiert. „Das Thema meiner Filme wird immer das gleiche bleiben: die Benutzbarkeit, die Ausbeutung von Gefühlen innerhalb des Systems, in dem wir leben“, zitiert ihn die Schau: „Meine Filme kreisen um das Problem, dass die Leute überhaupt Beziehungen haben. Ob sie nun schwul, normal oder lesbisch sind oder was weiß ich…“.
Porträts westdeutscher Nachkriegs-Tristesse
Dieser pessimistische Befund hat an Schärfe nicht verloren; die Verhältnisse sind kaum einfacher geworden. Ob man ihnen beikommt, indem man Fassbinders Sujets einfach weiterspinnt, erscheint aber fraglich. Sein grotesk überzeichnetes Personal, das mit blutrot geschminkten Lippen schneidend deklamierte, brachte die westdeutsche Nachkriegs-Tristesse mit ihrer steifen Affekt-Kontrolle und Verdrängung der Vergangenheit perfekt auf den Punkt.
Seither hat sich die Benutzeroberfläche nicht nur der Bundesrepublik völlig verändert. Leistungsdruck und Repression treten im Gewand von Flexibilisierung und Selbstoptimierung auf, Konkurrenzkampf fördert durch Wettbewerb den Fortschritt, Diskriminierung ist gesetzlich verboten – und wird in social media umso rücksichtsloser ausgeübt. Zur Entlastung steht eine riesige Freizeit-Industrie bereit, die kein gadget ohne ironisches Augenzwinkern verkauft.
Manierierte Bildgestaltung ist heute Pop
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Hanna Schygulla – Traumprotokolle" - in der Akademie der Künste, Berlin
und hier einen Beitrag über den Film "Die wilde Zeit – Après mai" über linke Subkultur der 1970er Jahre von Olivier Assayas
und hier eine kultiversum-Besprechung der Ausstellung "Rainer Werner Fassbinder" - im Deutschen Theatermuseum, München.
Wenn Runa Islam 1998 die berühmte 360-Grad-Kreisbewegung aus „Martha“ von 1973 als re-enactment inszeniert, ist das schlicht epigonal: Dass Kameras auf Schienen fahren, weiß man. Fassbinders manierierte Bildgestaltung, die in den 1970er Jahren noch einzigartig war, hat die Populärkultur längst aufgesogen: Kein Videoclip ohne knallbuntes Geflacker, kaum ein Hollywood-blockbuster ohne Schwindel erregende Kamerafahrten oder kadrierenden split screen.
Gewalt + Zwänge sind überall
Die Aktualität seines Werks liegt nicht im look, sondern im content: messerscharfes Sezieren von Gewalt und Unterdrückung, Aufspüren sozialer Zwänge noch in den intimsten Beziehungen, Demaskieren wohlfeiler Glücksversprechen. Diese Konstanten lassen sich auch in heutigen Lebenswelten überall ausmachen; zahlreichen Filmen und Kunstwerken gelingt das. Aber nicht dem willkürlich ausgewählten halben Dutzend Arbeiten in dieser Ausstellung.