„Postdramatisches Theater“ klingt wie ein Widerspruch in sich. Anstelle von Dramen bringt solches Theater ungefilterte Wirklichkeit auf die Bühne: Minderheiten und Randgruppen führen ihr Dasein voller Erniedrigungen und Beleidigungen vor. Häufig wird daraus banale Verdoppelung der Realität – für ein Publikum, das sich ihren Zumutungen nur im Schutzraum des Kulturbetriebs aussetzen mag.
Info
Die Moskauer Prozesse
Regie: Milo Rau,
86 Min., Russland/ Deutschland 2013;
mit: Maxim Schwetschenko, Anna Stavickaja, Katja Samuzewitsch
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Extremfälle der Zeitgeschichte
Insofern passt die Inszenierung der „Moskauer Prozesse“ von Milo Rau perfekt zum Sujet. Der Schweizer Theatermacher hat schon einige Extremfälle der Zeitgeschichte auf die Bühne gebracht: von der Erschießung des rumänischen Diktatoren-Ehepaars Ceauçescu über Völkermord-Propaganda im Radio von Ruanda bis zum Weltbild des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik. Doch bei diesem Justiz-Spektakel sind Form und Inhalt so deckungsgleich wie nie zuvor.
Offizieller Filmtrailer
Letzte Enklave der liberalen Intelligenzija
Der Titel erinnert nicht zufällig an die drei großen Schauprozesse, mit denen Stalin Ende der 1930er Jahre seine parteiinterne Konkurrenz liquidierte. Die neuen Moskauer Prozesse der Putin-Ära begannen 2004 gegen die Organisatoren der Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ und drei Jahre später gegen diejenigen der Schau „Verbotene Kunst – 2006“.
Beide Ausstellungen waren zuvor von christlich-orthodoxen Eiferern gestürmt und zerstört worden, weil sie angeblich ihren Glauben beleidigten. Die Kuratoren wurden bezichtigt, sie hätten religiösen Hass geschürt. In einer kleinen Enklave: Die Ausstellungen fanden im Sacharow-Zentrum statt. Der abgelegene Mehrzweck-Bau ist einer der letzten Rückzugsorte der regierungskritischen Moskauer Intelligenzija; hier pflegt sie noch eine freigeistige Atmosphäre, die im übrigen Land längst verschwunden ist.
Prozess-Akteure übernehmen gleiche Rollen
2012 folgte der Prozess gegen „Pussy Riot“: Für ihr 40-sekündiges „Punk-Gebet“ in der Christus-Erlöser-Kathedrale wurden drei Mitglieder der Frauen-Gruppe wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei allen drei Fällen wurde die Öffentlichkeit erst durch Strafverfolgung darauf aufmerksam; in der gelenkten und zensierten Medien-Berichterstattung Russlands kamen fast nur Vertreter von Staatsmacht und -kirche zu Wort.
Regisseur Rau will das ändern. Sein Verfahren läuft ebenfalls im Sacharow-Zentrum ab; Anklage und Verteidigung haben gleiches Rederecht. Sie berufen „Experten“ in den Zeugenstand, die für ihre jeweilige Sache argumentieren: Künstler, Akademiker, Priester und orthodoxe „Aktivisten“. Zu Gericht sitzt eine Jury von sieben Geschworenen; die einzigen Laien bei einer Profi-Veranstaltung, deren Akteure meist die gleichen Rollen übernehmen wie in den drei realen Prozessen.
Verhandlung über Gesellschafts-Ordnung
An drei Verhandlungstagen werden die Prozesse aufgerollt: mit Beweisaufnahmen, Kreuzverhören und Plädoyers. Der Regisseur respektiert die Unabhängigkeit der Justiz und hält sich völlig im Hintergrund. Erst als die Außenwelt hereinbricht, muss er eingreifen: Plötzlich lässt die Einwanderungs-Behörde alle Pässe kontrollieren. Kurz darauf tauchen Kosaken auf, die „antireligiöse Propaganda“ unterbinden wollen.
Als Tumult und Abbruch drohen, verbünden sich beide Parteien miteinander: Sie wollen ihre Inszenierung unbehelligt zu Ende führen. Im Gerichtssaal streiten sie dann wieder bis aufs Messer: Die Wortschlachten gehen inhaltlich weit über die drei Prozesse hinaus. Verhandelt wird nichts Geringeres als die Werte-Ordnung der russischen Gesellschaft.
Nachlässige Auftritte der Verteidigung
Recht defensiv wirkt die Strategie von Verteidigerin Anna Stavickaja. Sie versucht, den Schlägern einer „orthodoxen Kampfsport-Gruppe“ Widersprüche nachzuweisen: Wenn sie Kunst-Ausstellungen zertrümmerten, in denen religiöse Embleme auftauchten, dann zerstörten sie damit ihnen heilige Symbole, die sie zu schützen vorgäben.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier ein Interview mit den Regisseuren Mike Lerner + Maxim Posdorowkin über ihre Doku "Pussy Riot − A Punk Prayer" zur Verfolgung der russischen Aktivisten-Gruppe
und hier einen Bericht über den Vortrag von Kunsthistorikerin Jekaterina Degot über revolutionäre Staatskunst in der Sowjetunion auf den "Künstler-Kongressen" der dOCUMENTA (13)
und hier einen Beitrag über die Dokumentation "Der Fall Chodorkowski" von Cyril Tuschi über den Prozess gegen den russischen Oligarchen Michail Chodorkowski.
Kreml + Kirche kopulieren
Dagegen tritt die Anklage mit Aplomb auf. Wortgewaltig wettert der Journalist und TV-Moderator Maxim Schwetschenko gegen „liberal-faschistisches“ und „liberal-totalitäres“ Gedankengut – auf solche Neuschöpfungen des politischen Vokabulars muss man erst einmal kommen. Lautstarke Unterstützung erhält er von diversen Glaubenskämpfern, die für die Einheit von Kirche, Staat und Nation streiten.
Ihre Aussagen sind für westliche Ohren besonders aufschlussreich: Da kommt ein vormodernes Weltbild zum Vorschein, das jeden Zweifel oder Kritik an vermeintlich ewigen Wahrheiten für blasphemischen Frevel hält – der vom gottlosen und verruchten Westen ausgeht. Wie bei evangelikalen Sekten oder radikalen Islamisten – doch in Russland agieren solche Leute mit Billigung der Staatsmacht. Das „Kopulieren“ von Kreml und Kirche nennt es der russisch-orthodoxe Priester-Dissident Gleb Jakunin.
Nächstes Drama auf der Krim
Zumindest im Sacharow-Zentrum setzen sich die Rechtgläubigen nicht durch: Die Geschworenen-Jury spricht die Angeklagten vom Vorwurf frei, sie hätten absichtlich die Gefühle von Gläubigen verletzt. Doch dieses Urteil ist nur postdramatisches Theater. Eine viel realitätsnähere Produktion wird derzeit auf der Krim aufgeführt: „Sammeln russischer Erde“, wie es unter den Zaren hieß, und Heimholung ihrer Bürger, die von ukrainischen Liberal-Faschisten bedroht sind.