Frankfurt am Main

Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

Suzanne Valadon: Nu au canapé rouge, 1920, Öl auf Leinwand, 80 x 120 cm. Fotoquelle: Schirn Kunsthalle Frankfurt
Jeden Montag Markt für Maler-Modelle mit 600 Damen: Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Armenviertel im Norden von Paris zum Künstler-Mekka. Den Mythos Montmartre aus Absinth, Bordell und Picasso präsentiert die Schirn hervorragend mit 200 Werken.

Kreativ-Bezirke entstehen dort, wo das Stadtzentrum nah ist, aber Miete und Alkohol billig sind. Was vor 40 Jahren in New Yorks Lower East Side und vor 15 Jahren in Berlin-Kreuzberg geschah, spielte sich in Montmartre schon vor 130 Jahren ab: erst zogen kleine Leute und Randexistenzen hierher, danach kamen Künstler, dann Touristen.

 

Info

 

Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

 

07.02.2014 - 01.06.2014

täglich außer montags

10 bis 19 Uhr, mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr

in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt/Main

 

Katalog 34 €

 

Weitere Informationen

 

Diese bunte Mischung eroberte paradoxerweise einen Hügel, der große religiöse Bedeutung hatte. Auf Montmartre war 250 n. Chr. der erste Bischof von Paris enthauptet worden. Anschließend, heißt es, wanderte der heilige Dionysius mit seinem Kopf unter dem Arm sechs Kilometer nordwärts. Dort steht heute die Kathedrale von Saint Denis, wo fast alle Könige Frankreichs begraben sind.

 

Jesuiten-Orden + Sacré-Cœur

 

Aus dieser Legende leitet sich der Name von Montmartre ab: mons martyrum. Hier stand im Mittelalter ein bedeutendes Benediktiner-Kloster; Ignatius von Loyola gründete 1534 den Jesuiten-Orden. Und 1873 beschloss die Nationalversammlung, auf dem östlichen Gipfel die riesige Wallfahrtskirche Sacré-Cœur zu errichten: zum Gedenken an die Opfer des Krieges von 1870/71 und zur „Abbüßung der Verbrechen der Kommune“, die Paris 1871 zwei Monate lang sozialistisch regiert hatte.


Impressionen der Ausstellung


 

Gips-Steinbrüche + Gemüsegärten

 

Viele ihrer Aktivisten und Sympathisanten wohnten auf dem Montmartre: mit freiem Blick auf die Bauarbeiten, die sich bis 1914 hinzogen. Denn im Gegensatz zum übrigen Paris, das Baron Hausmann als Stadtplaner in eine Metropole mit schnurgeraden Pracht-Boulevards verwandelt hatte, war der Hügel bis Ende des 19. Jahrhunderts nur spärlich bebaut.

 

In Steinbrüchen wurde Gips abgebaut; Stollen und Schächte dienten Kriminellen und politisch Verfolgten als Versteck. Dazwischen standen armselige Hütten und Bretterverschläge, in denen Tagelöhner und Gesindel hausten. Auf der Nordwestseite, dem maquis („Gebüsch“), gab es ausgedehnte Gemüsegärten und Felder. Van Gogh malte hier 1886/8 Szenen idyllischen Landlebens; man mag kaum glauben, dass sie mitten in Paris entstanden sind.

 

Wie eine favela in Rio de Janeiro

 

Auf Fotografien der Jahrhundertwende sieht Montmartre wie eine favela in Rio de Janeiro aus: ein chaotisches Mosaik windschiefer Baracken im Gassen-Gewirr. Aus dem hielt sich die Staatsmacht fern; für das ganze Gebiet waren nur zwei Polizisten zuständig. Der Hügel war quasi rechtsfreier Raum, wie geschaffen für Regelverstöße und Experimente aller Art.

 

Wie dieses Elendsquartier für 30 Jahre zum europäischen Kunstzentrum wurde, dessen internationale Akteure die halbe Moderne ausheckten, präsentiert die Ausstellung in der Schirn in allen Aspekten: als Entstehungsgeschichte des Szene-Viertels par excellence, die später in anderen Städten nach dem gleichen Muster ablaufen sollte.

 

Esprit-Rekonstruktion in Mainhattan

 

Im Mittelpunkt stehen nicht einzelne Bewohner und ihre Arbeit, obwohl die Schau mit rund 200 Werken von 26 Künstlern reich bestückt ist, sondern der Hügel selbst: seine soziale Topographie und das dichte Beziehungs-Geflecht, die das „Leben der Bohème“ zum Mythos machten.

 

Laut Schirn handelt es sich um die allererste Ausstellung zum „Esprit Montmartre“ an sich. Dass sie ausgerechnet im durchgentrifizierten Frankfurt stattfindet, verwundert: Seit der Vertreibung von Spontis aus dem Westend ist Mainhattan quasi szenefrei. Doch vielleicht bedarf es der Spürnase gewiefter Immobilien-Makler, um dieses Phänomen präzise zu beschreiben.

 

Achterbahn um die Windmühle herum

 

Am Anfang standen jedenfalls Wein und Absinth. Städtische Abgaben auf Alkohol entfielen bis 1860 in Montmartre; erst dann wurde der Hügel als 18. arrondissement von Paris eingemeindet. Da gab es auf ihm schon etliche Schenken und Weinlokale, etwa am Fuß seines Wahrzeichens Moulin de la Galette. Um die Windmühle herum wurde 1885 eine Achterbahn errichtet, damit zechende Gäste sich den Kopf durchpusten lassen konnten.

 

Ab den 1880er Jahren eröffneten am Südrand von Montmartre, entlang der Boulevards und in Seitenstraßen, zahllose café-concerts, varietés und cabarets für jeden Geldbeutel und Geschmack. Sie boten zur Bewirtung ein Unterhaltungs-Programm. Das Publikum war wählerisch, der Konkurrenzdruck enorm; bald entstand eine ausgefallene Event-Gastronomie.

 

Tafeln im Knast + Kloster

 

In der Taverne du Bagne („Gasthaus zur Strafkolonie“) waren Kellner als Sträflinge verkleidet. L‘ Abbaye de Thélème war wie ein Kloster eingerichtet; hier bedienten Mönche und Nonnen. Direkt nebeneinander lagen Le Ciel und L´Enfer: Im „Himmel“ servierten Engel Kelche mit Nektar und Ambrosia; in der „Hölle“ wartete teuflisches Personal. 1894 zeigte der Divan Japonais den „ersten Pariser Striptease“: Auf der Bühne legte eine Dame ihre Kleider ab und ging zu Bett.

 

Beliebter waren aber die cabarets mit Musik und Tanz; manche wie das Moulin Rouge und die Folies Bergères bestehen bis heute. Einzelne Sänger wie Aristide Bruant und Tänzerinnen wie La Goulue wurden wegen ihrer gewagten Lieder und schlüpfrigen Einlagen zu gefeierten Stars – und beliebten Motiven bei Künstlern.