Zwei Reggae-Sänger treffen sich in einem Studio auf Jamaika, um gemeinsam einen Song aufzunehmen. Eigentlich kein Anlass für einen abendfüllenden Film, in diesem Fall aber doch: Erstens handelt sich um die beiden derzeit erfolgreichsten Reggae-Musiker weltweit. Zweitens sind beide keine Jamaikaner.
Info
Journey to Jah
Regie: Noël Dernesch + Moritz Springer,
92 Min., Jamaica/ Deutschland/ Schweiz 2013;
mit: Tilmann Otto, Alberto D‘Ascola, Theresa Williams
Auffälligkeiten steigern Marktwert
Auf Jamaika gelten sie gleichsam als Ehrenbürger: Zwei weitere kuriose Fälle in einer Unterhaltungsindustrie, in der man Auffälligkeiten offensiv aufaddieren muss, um den eigenen Marktwert hochzutreiben. Das wusste schon Yellowman: Als Albino wurde er der erfolgreichste Reggae-Sänger der 1980er Jahre.
Offizieller Filmtrailer
Reggae-Star Gentleman als Reiseführer
Diese kulturelle Ausnahmesituation nutzen Noël Dernesch und Moritz Springer, um ein komplexes System von Sehnsüchten und Projektionen offen zu legen – samt ihrer musikalischen, soziologischen, politischen und spirituellen Hintergründe. Das gelingt ausgezeichnet. Für die Regisseure ist Gentleman ein charismatischer und auskunftsfreudiger Reiseführer, der sein Herz gewissermaßen auf der Zunge trägt.
Auf 20 Jahre alten Video-Aufnahmen von seiner Feuertaufe auf einer jamaikanischen Festivalbühne ist deutlich zu sehen, welchen langen Weg er seitdem zurückgelegt hat: ein talentierter, sensibler Typ, der auf seine Intuition hört und an der westlichen Lebensart zweifelt. Andere wären zu den Jusos gegangen oder zu den Jesus-Freaks. Tilman Otto zog es zum Reggae – und damit zu Jah, wie Gott von Rastafaris genannt wird.
Latente Konkurrenz schimmert durch
Nun ist Gentleman kein Schluffi mit dreadlocks, der seine Liebe zum Hanf mit Rasta-Halbwissen aus Song-Texten von Bob Marley rechtfertigt, sondern ein konzentriert arbeitender Bühnenkünstler mit gewaltigem Pensum. Er hat die jamaikanische Kultur von innen studiert und seine Schlüsse gezogen. Er ist sich seiner Grenzen und Privilegien bewusst; im Gegensatz zu Alborosie lebt er nicht auf der Karibik-Insel.
Sicher hat sich Gentleman in den letzten 20 Jahren manche Frage gestellt. Vor allem: Warum hat er als Weißer gelernt, zu gehen, zu reden und zu reimen wie ein Jamaikaner? In den Anfangsszenen wirken die beiden Protagonisten wie Schauspieler, die sich selbst spielen. Wenn sie im jamaikanischen Patois parlieren, schimmert mehr als einmal durch, dass hier auch zwei Konkurrenten einander etwas misstrauisch belauern.
Kooperation ohne Blutvergießen
In der performativen Rasta-Kultur ist die Integrität einer Bühnenperson, die sich mitunter durch lauter Übertreibungen definiert, das A und O. Im gnadenlosen Wettbewerb: Wenn früher zwei dancehall-Dons um den Thron stritten, ging es martialisch zu. Dass Gentleman und Alborosie im Zeichen von Eintracht und Spiritualität kooperieren, ohne dass zuvor – metaphorisches oder reales – Blut fließt, ist neu: EU-Werte im rat race von Trenchtown, dem Armenviertel der Hauptstadt Kingston, das viele Reggae-Stars hervorgebracht hat.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Marley" - fesselnde Doku über die Reggae-Ikone Bob Marley von Kevin Macdonald
und hier einen Bericht über die Dokumentation “The First Rasta” von Hélène Lee über Leonard Percival Howell, Gründer der Rastafari-Religion.
Gewalt + Homophobie als Stolpersteine
Dieses schönste Männer-Doppelporträt fürs Kino seit dem Formel-Eins-Film „Rush“ reichern noch etliche Nebenerzählungen und -charaktere an. Die geben dem Ganzen die richtige Tiefe: etwa die jamaikanische Literaturprofessorin Carolyn Cooper; Gentlemans Mentor, der abgeklärte Musiker Jack Radics, oder die Sängerin Terry Lynn. Sie entkam der Armut von Kingston nach Europa und verbindet heute ihre roots mit urbanem Elektro-Punk – ein Kultur-Spagat mit umgekehrten Vorzeichen.
„Journey to Jah“ dürfte als erster Film die spirituelle Anziehungskraft untersuchen, die junge Europäer nach Jamaika blicken lässt. Dabei sparen weder die schön fotografierten Bildern noch die Kommentare postkoloniale Altlasten und Widersprüche aus. Alltägliche Gewalt auf Jamaika wird ebenso thematisiert wie die dortige Homophobie – Stolpersteine auf einem eklatanten Gefälle, das weiße Europäer auf ihrer Reise zu Jah überwinden müssen.